Vom Bild, das wir abgeben

Andreas Laudert

Symptome

Auf dem Plakat, das ich täglich passiere, erblicke ich das Gesicht eines Politikers. Ich sehe nicht seine Augen – ich sehe, wie er seine Augen gesehen haben will. Ich sehe nicht sein Lächeln – ich sehe, wie er es aufgefasst haben möchte. Ich sehe nicht den Hintergrund der Landschaft, vor der er sich ablichten ließ – sondern dass der Hintergrund vordergründig ist. Ich empfinde Mitgefühl mit dem menschlichen Antlitz, das all den Blicken ausgesetzt ist und so seine Unschuld verliert, und so geht es mir – vermutlich bin ich überempfindlich – bei allen Gesichtern in Werbekontexten, schon bei Portraits auf CD- oder Buchcovern. Immerzu sehe ich das Kalkül. Ist meine Wahrnehmung überreizt – oder meine Reflexion?

Indem wir uns in der Öffentlichkeit bewegen, geben wir ein Bild ab. Der Anblick des Alltags hat sich verändert, seit sich alle über ihre Endgeräte beugen. Man fragt sich, ob mit einem selbst noch alles in Ordnung ist, wenn man nicht das Bedürfnis hat, der Welt mitzuteilen, dass man gerade Apfelkuchen bäckt oder sich in Berlin-Mitte befindet. Wir denken, zufrieden oder selbstkritisch, öfter darüber nach, wie wir gerade wirken, antizipieren die Wahrnehmung der Anderen und bleiben auch dann noch auf den Mainstream bezogen, wenn wir von ihm abweichen. Wie oft schon habe ich in der S-Bahn, weil ich rasch eine Nachricht schreiben oder etwas googeln, kurz: weil ich im Bilde sein wollte, über mich selber gedacht: Jetzt sitzt du da wie alle und tippst in dein Smartphone. Die Vorstellung war mir unsympathisch. Meist entlaste ich mich damit, dass ich mir das Bild, das ich abgebe, ja bewusst gemacht habe.

Eine Waldorflehrerin erzählte mir begeistert vom Instagram-Post einer Autorin, zu deren Followern sie zählt, der einen Backstage-Eindruck vor dem Auftritt zeigte. Ich versuchte zu verstehen, was daran so erwähnenswert gewesen war. Für die Kollegin waren Posts Eindrücke »wie auf der Straße«, die man, statt sie im Café zu teilen, eben digital austausche. Für mich machte es einen Unterschied, ob man einander zwanglos auf etwas aufmerksam macht, das im Straßenbild auftaucht und ungespeichert wieder verschwindet, und auch nur den darauf hinweist, mit dem man den Augenblick teilt – oder ob man gezielt Aufmerksamkeit generiert, sie im Wortsinn automatisch voraussetzt, weil man Follower hat. So wird die Straße, um im Bild zu bleiben, zum Laufsteg. Natürlich betrachten wir einander, mal verstohlen, mal unverhohlen; es ist menschlich, den öffentlichen Raum auch als Bühne zu nutzen. Aber erst das Beiläufige und Absichtslose macht die Straße zum Ort der geheimen Begegnung, der Verheißung künftiger Beziehung, der unkommentierten Interaktion und des sozialen Zwischenraums, wo ich sehen, vergessen, verweilen und sogar jemandem heimlich folgen kann wie in Lukas Bärfuss’ Roman »Hagard«. Jedem Post indes liegt ein Willensimpuls zugrunde. Man setzt, was man tut oder sieht, zusätzlich in Szene, gibt ihm einen Rahmen und verbreitet es, weil es ein bestimmtes Narrativ bedient. Male ich mir aus, mein Leben sei ein Roman und ich würde von einem Erzähler-Gott beobachtet, transzendiert sich die Existenz durch Verklärung; auch Fotokunst zeugt davon. Aber wenn jede Interaktion zur Performance wird – nicht zufällig meint die »Vorstellung« sowohl den Bühnenauftritt als auch den ungefähren Begriff – und alles auf seine Wirkung abgeklopft, dann ist »Leben« nur noch das Medium meiner Selbstdarstellung, äußerer Rahmen für das Bild, das ich vermitteln will, und dessen Hochladen Ausdruck des Willens, darauf Einfluss zu nehmen.

Manipulation ist selbstverständlich

Ein unverkrampftes Verhältnis zum eigenen Portrait und die Sorgfalt bei dessen Freigabe ist gesund. Man muss die Entwicklung nicht kulturpessimistisch bewerten. Letztlich handelt es sich um die nächste Stufe dessen, was Medien vom Wort her sind: Mittel. Aber es gibt den Punkt der Übertreibung, den Moment in der Evolution, wo etwas kippt. Wir greifen heute stark mit dem Willen in alles ein, weil es unseren Vorstellungen optimal entsprechen soll, ästhetisch wie moralisch. Die Manipulation wird selbstverständliche Technik des sozialen Umgangs. Dieses strukturelle Einverständnis zwischen Bildschöpfern und -empfängern manifestiert sich im Influencer. Indem man ihm folgt, signalisiert man: Beeinflusse mich! So wird der Begriff der Manipulation aufgehoben. Wir agieren wie augenzwinkernd Verschworene, obwohl wir die Verschwörung theoretisch ablehnen. Jeder ahnt, dass das Familienidyll, das Selfies vermitteln, so toll gar nicht ist, dass Stars privat sehr normal aussehen und Tinder demütigend ist – die lässig weggewischten, abgelehnten Gesichter –, aber wir nutzen all diese Dinge, weil sie so entlastend ehrlich und praktisch sind und das Fleisch willig ist. Selbstoptimierung begeistert unseren Geist, weniger Selbsterziehung.

Ängste bestimmen uns

Die Akzeptanz der Macht anderer trifft zugleich auf ein neues Sicherheitsdenken, neue Schrift-Bilder. Emojis etwa sind auch Symptom fehlender Entspanntheit, der Empfänger einer SMS verstehe schon, wie man sie meint. Die grinsenden Gesichter sind Vorsichtsmaßnahmen – wie das Gendersternchen das Vertrauen ersetzt, dass Täterinnen mit gemeint sind, wenn vom Sanitäter die Rede ist: dass also das andere Geschlecht stets durchscheint. Die Formalisierung von Gerechtigkeit, der unbedingte Impuls, dass stets das richtige Bild evoziert wird, sind Rituale der Absicherung, die Interpretationsspielräume zerstören, das Dazwischen, in dem wir uns überhaupt erst begegnen. Dabei käme es auf diese Mitte an, die Ich-Aktivität von Sender und Empfänger, auf die Kunst, Resonanz zu erspüren.

Hinter dem Bedürfnis, sich über Bilder gelingenden Lebens sich seines In-der-Welt-Seins zu versichern, mag sich Panik und eine umso stärkere Unsicherheit verbergen – der Wunsch, das Bild, das man abgibt, dennoch zu behalten, die Sorge, es sei beim Hochgeladenen gar nichts Höheres dahinter. Hat die Digitalisierung dieses Bedürfnis hervorgebracht – oder war sie sozusagen vorher schon in uns? Haben wir sie aufgrund einer inneren Disposition erst nach außen projiziert? Wie verhält es sich mit den Bildern vom Menschen überhaupt, mit den Begriffen, die wir uns vom Seelenleben machen? Das Imaginative und Plastische scheint sich zurückzuziehen zugunsten von Begriffen wie infantilen Abziehbildern, die als Likes die Realität verkürzen und verniedlichen und ohne jede Tiefe sind. Im Hater habe ich den Hass schon akzeptiert, und der hochgereckte Daumen will vermutlich sagen, beim Differenzieren ist noch Luft nach oben.

Perfektsein ist alles

Eine rhetorisch allgegenwärtige Referenz ist heute das Perfekte. Im perfekten Bagel oder Date deckt sich die Vorstellung mit dem, was sich einstellt, und wird die Hoffnung genährt, einen paradiesischen Zustand der Herstellbarkeit und Verfügbarkeit von allem und jedem zurückerlangen zu können, in dem wir uns stets dorthin wenden können, wo sich gerade das (perfekte) Leben abspielt, um maximal flexibel auf die wechselnde Aufmerksamkeit zu reagieren und zeitnah dem, was passt, zu entsprechen. Das Perfekte ist – so gesehen – das Geistige. Es ist stets das Ideelle, das, was fehlt, weil ich physisch nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Im Englischen ist »perfect« die Vergangenheit. Offenbar stirbt das Geistige mit der Inkarnation in die Materie hinein, in die Bedingungen des Irdischen: Wir tragen es als Vor-Bild in uns, auf das wir zurückkommen, wenn wir sterben. Vergleiche ich aber das schicksalhaft Gegebene ständig mit dem Besseren und Vollkommenen, mit der Vorstellung, mit vorher Ausgedachtem, dann sehne ich mich nach etwas (zurück), das auf Erden nicht erreichbar ist, zumindest nicht auf Knopfdruck, weil ich eben der geborene Mensch bin. Der Mensch ist der geborene Vollkommene – aber er kann es nur werden. Diesem weisen Paradoxon gegenüber repräsentieren Wunsch- und Ultraschallbilder Schein-Sicherheiten. Die wahre Flexibilität, die »perfekte«, da umfassende, Freiheit bietet erst das Ich, das das Schicksal schier unerschöpflich kreativ und souverän gestalten kann.

Im Zwischenraum

Vielleicht besteht also ein Zusammenhang zwischen den Bildern, die sich durch die sozialen Medien zwischen Welt und Mensch schieben, und unserer Angst vor echter Verbindlichkeit in eben diesem Sozialen. Vielleicht rührt die Panik vor dem Falschen, vor dem Verpassen, an die Angst vor der Ohnmacht, dem Ende der Optionen, die wir bei der Inkarnation durchleben. Geburt bedeutet die Festlegung auf einen Leib, ein Geschlecht, eine Herkunft, den Verlust der Kontrolle und des Über-Blicks. Wir aber wollen unser Zur-Welt-Kommen steuern, uns schon vorher ein Bild machen, und produzieren immer mehr Bilder, um uns abzuschirmen, das Leben immer im Blick zu behalten. Sind dies Indizien seiner Verlagerung in eine Parallelwelt – oder Schattenwürfe einer Transformation, bei der Geschöpfe zu Schöpfern werden, Zuschauer zu Akteuren, von Natur aus mit sich Identische zu empathisch sich immer neu Identifizierenden? Was wir »im Paradies« als der geistigen Welt zurückließen, bleibt ja durchscheinend als Bild um uns. Wir sind auch Ikonen, Durchschienene. Jede Beziehung, die wir irdisch nicht vertiefen, jede Identität, die wir nicht annehmen können, bleibt als Versprechen vorhanden, als Keim. – Fühlt sich heute für manche Menschen das, was man bei der Geburt wurde, abstrakt an und wie tot, weil der, der sich das ausdachte, (vermeintlich) nicht man selber war? Während das Bild, das man in sich trägt von dem, was man sein will und was man werden wollte, noch ganz konkret in einem lebt? So mag ich als Frau geboren sein, aber habe in mir die Vorstellung, eigentlich der geborene Mann zu sein. Ich begreife mich erst wirklich als das Andere, das Dazwischen: Ich werde, der ich bin, durch Identifikation. Ich komme mir im Anderen entgegen, sehe mich im Spiegel dessen, der wurde, was ich nicht bin. Im Ich lebt das Potenzial der gesamten Menschheit, weil es deren Ur-Bild, Inbegriff und Zukunftskeim ist. – Diese Schwelle scheint uns heute nah, als Gedächtnis des Vorgeburtlichen, Ahnung des Nachtodlichen. Die beiden Tore stehen »gefühlt«, mitten in der sich vollziehenden Biografie, sperrangelweit offen.

Die (pädagogische) Kunst wird es sein, gelassen jene Zwischenräume zu schützen, in denen der innere Mensch aufblickt, während sein physisches Auge gebannt ist, die freie Zone, wo wir privat sind und öffentlich, Bilder und Bildende, Frau und Mann, empfangend und gebend. Wir sind Medien, durch uns erblickt sich die Welt. Kinder sind ihrer Natur nach süchtig nach dem Sofortigen, hier und jetzt soll alles geschehen. Doch zugleich sind sie der reinste Ausdruck eines geduldig Werdenden.

Literatur: F. Kafka, »Aphorismen«, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, nach der Kritischen Ausgabe, hrsg. von Hans-Gerd Koch. Bd. 6, Frankfurt 1994, in der Handschrift als Ganzes mit Bleistift gestrichen.

Zum Autor: Andreas Laudert ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Ethik an der Freien Waldorfschule Berlin-Prenzlauer Berg.