Wer hat nicht als Kind darüber nachgedacht, ob das Licht im Kühlschrank immer brennt? Oder woher der Kühlschrank weiß, wann jemand reinschaut und deshalb das Licht anmacht? Bis der Schalter entdeckt wird. Sachlichkeit stellt sich ein: «Ach so, ein Schalter!» Gleichzeitig entsteht aber auch eine Freude am Durchschauen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich es liebte, im Anschluss an meine Entdeckung bei geöffneter Kühlschranktür das Licht im Kühlschrank immer wieder aus- und einzuschalten. Ich kann mich auch noch daran erinnern, mit welchem Versuchsaufbau ich mich der Entdeckung angenähert habe. Ich habe die Kühlschranktür ganz plötzlich aufgerissen, um zu schauen, ob ich noch ein Stück Dunkelheit erwische. Dann habe ich die Kühlschranktür ganz langsam zugemacht und geprüft, ob ich in dem Spalt den Übergang von Hell zu Dunkel erhaschen kann. In beidem steckt schon die Vorannahme, dass das Öffnen der Tür etwas mit dem Phänomen zu tun hat. Ich habe die Tür beobachtet, wie sie in die Laibung geglitten ist und schließlich die Laibung abgetastet, bis ich tatsächlich auf den kleinen Schalter gestoßen bin, der das Licht im Kühlschrank reguliert. Ich hatte das Phänomen durchschaut und nun war ich Herrin über das Kühlschranklicht und kein Mensch konnte mir mehr etwas über ein kleines Männchen erzählen, das dort drinnen das Licht einschaltet.
Ein Phänomen zu durchschauen bringt Klarheit, aber auch Handlungssicherheit. Wenn ich einen Mechanismus durchschaue, durchbreche ich seine magische Macht über mich. Wenn ich weiß, wie sich Feuer verhält, dann fürchte ich es nicht mehr, ich respektiere es und setze es so ein, wie ich es benötige.
So möchte ich den Physikunterricht in der Mittelstufe gestalten. Ich zeige zunächst die einfachen, mit den eigenen Sinnen durchschaubaren Phänomene. Sie werden zunächst durch genaues Beobachten eingekreist. Das Beobachtete wird sortiert und den ordnenden Kräften der Nacht überlassen, bevor am nächsten Tag das Wirkprinzip im Unterrichtsgespräch von den Schüler:innen selber herausgearbeitet wird. Die Freude am eigenen Entdecken, der Siegeszug des eigenen Verstandes und das damit einhergehende Erlebnis der Selbstwirksamkeit ist der eigentliche Gewinn. Er stärkt zutiefst das vertrauensvolle Verhältnis der Schüler:innen zur Welt und zu sich selbst. Denn das Gefühl, das zurückbleibt, ist: «Welt, du kannst dich mir zeigen. Ich werde dich durchschauen und in dir zurechtkommen können.»
Gerade schafft die Schulgemeinschaft an der Augsburger Waldorfschule einen neuen Trakt für die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT). Dort werden die Schüler:innen der Oberstufe intensiver experimentieren und forschen können als bisher. Aber auch in der Mittelstufe haben wir neues Experimentiermaterial angeschafft, anhand dessen die Schüler:innen passend zu den Themen der Mittelstufe Übertragungs- und Antriebssysteme untersuchen können.
So hat sich die siebte Klasse die Gangschaltung eines Fahrrades erschlossen, indem sie in kleinen Gruppen zunächst die Übertragung von Zahnrad zu Zahnrad untersucht und anschließend mit Fischertechnik eine eigene Gangschaltung entwickelt hat. Im praktischen Tun sind alle Probleme aufgetaucht, die eine Kettenschaltung im realen Leben in der Regel mit sich bringt. So zum Beispiel die Kettenspannung oder die Schrägstellung der Kette, wenn die Zahnräder von links hinten nach rechts vorne zusammengespannt werden sollen. Einige Gruppen lösten diese Probleme sehr geschickt und kreativ. Am Ende haben alle Schüler:innen eine Probefahrt mit dem Fahrrad auf dem Schulgelände gemacht und die Übertragungsverhältnisse noch einmal genau überprüft.
Die Achtklässler:innen wiederum erarbeiteten sich den Elektromotor. Alle Schüler:innen bauten ein Modell und fast alle liefen am Ende auch. Außerdem untersuchten sie die Antriebskraft von Solarzellen. Dabei lernten sie zudem, einen Schaltplan zu lesen und weiterzuentwickeln.
Für mich war vor allem die äußerst produktive, aktive Stimmung, die sofort den Raum durchzog, wenn die Schüler:innen einen Versuch nicht nur verfolgten, sondern selbst durchführten, von Bedeutung. Alle arbeiteten mit und machten ihre eigenen Erfahrungen beim Studieren und Umsetzen von Bauanleitungen und beim Umgang mit Fehlern. Die einen waren schneller und nutzten die verbliebene Zeit, um Ideen weiterzuentwickeln. Dabei entstanden abenteuerliche Konstruktionen, die mal auf die Funktion ausgerichtet, mal auf ästhetische Aspekte fokussiert waren. Was jedenfalls nicht aufkam, war Langeweile. Das erste Arbeiten mit unseren neuen Experimentiereinheiten in der Physik hat mich sehr darin bestätigt, diesen Weg fortzusetzen und den Schüler:innen eigene Entdeckungsfelder einzuräumen. Die Hoffnung besteht, dass wir so neugierige, entdeckungsfreudige Schüler:innen in die Oberstufe entlassen, die den kommenden MINT-Bereich mit Leben füllen.
Übrigens: Falls jemand noch alte Fischertechnik zu Hause hat, dann würde ich mich über eine Spende für unsere Augsburger Physiksammlung sehr freuen. Je größer die Auswahl an Bauelementen, desto kreativer können die Schüler:innen nach Lösungen suchen.
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