Wodurch wird Pädagogik zur Kunst?
Schon bei den herkömmlichen Kunstformen ist es schwer zu sagen, was wahre Kunst eigentlich ausmacht. Der bayerische Komiker Karl Valentin äußerte sich zu dieser Schwierigkeit humorvoll: »Wenn du es kannst – ist es keine Kunst. Wenn du es nicht kannst – erst recht keine.«
Dass es keine Kunst ist, wenn man nichts kann, überrascht nicht. Natürlich benötigt ein Maler Kenntnisse von der Wirkung der Farben, ein Graphiker Zeichentechniken, ein Musiker muss sein Instrument beherrschen. Ein echter Künstler darf kein Dilettant sein. Umso mehr verwundert, dass perfektes Können nicht mit Sicherheit Kunst hervorzubringen scheint. Perfektion kann dazu verleiten, im Reproduzierbaren verhaftet zu bleiben. Rudolf Steiner ging es darum, neben dem Was, dem Inhalt, den Blick vor allem auf das Wie, das heißt, das Methodische des Unterrichtes zu lenken. Wie geht der Lehrer vor?
Hier bedarf es zunächst einer Selbsteinschätzung des Lehrers: Neige ich dazu, das Wesen jedes einzelnen Kindes auf mich wirken zu lassen, um in meinem Unterricht ganz und gar darauf einzugehen? Oder drängt es mich, die Schüler mit Intentionen und Themen, die mir als unentbehrlich erscheinen, zu beeindrucken und zu begeistern?
In der bildenden Kunst finden wir diese beiden gegensätzlichen Ausrichtungen wieder. Der Maler Cezánne beispielsweise setzte sich zum Malen so lange vor einen Berg, bis er formulierte: »Die Kunst steckt in der Natur. Das Geheimnis steckt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.« Ganz anders der Maler Gauguin: »Ich schließe meine Augen, um zu sehen.« Der Erziehungskünstler findet sowohl in der impressionistischen als auch in der expressionistischen Haltung Quellen, aus denen er schöpfen kann: Ich lenke den Blick auf meine Schüler und beziehe ihre Eigenheiten und Bedürfnisse in meine Unterrichtsgestaltung ein. Zudem werde ich den Schülern mit meinen unverwechselbaren persönlichen Ausdrucksformen begegnen. Durchschauen doch viele Schüler sofort, ob ein Lehrer ihnen mit aufgesetzten, vorgeformten Verhaltensweisen oder authentisch und gleichzeitig an ihnen interessiert entgegentritt.
Das Unerwartete zulassen und Neues entwickeln
Steiner rief die Lehrer der Waldorfschule dazu auf, nicht Definitionen an die Schüler heranzutragen, sondern mit ihnen lebendige Begriffe zu entwickeln. Er schickte sie damit auf die Suche nach einer Begriffsbildung, die sich mit dem Heranwachsenden entfaltet. Dabei muss ein Lehrer in der Begegnung mit Kindern auf das Unerwartete gefasst sein. Kaum einer beschreibt dieses Wagnis besser als Pablo Picasso: »Ich suche nicht – ich finde. Suchen, das ist ein Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden, das ist das völlig Neue, das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen.
Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis, für jedes neue Erlebnis im Außen und Innen, das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.«
Jeder Lehrer kennt diese Situation: Gut vorbereitet, mit festgelegten Zielsetzungen betritt er das Klassenzimmer; doch ach, die Schüler sind um keinen Preis der Welt dazu zu motivieren, seinen Ausführungen etwas abzugewinnen. Ein ganz anderes Thema liegt in der Luft. Welcher Mut ist jetzt erforderlich, die lieb gewonnene, gründlich durchdachte Vorgehensweise an den Nagel zu hängen, um das Vorgefundene zu würdigen und darauf, wie auch immer, einzugehen.
Tatsächlich geht es einem Lehrer nicht selten wie einem Bildhauer, der, von einer konkreten Vorstellung geleitet, beginnt, einen Stein zu bearbeiten. Doch das Material ist oft eigenwillig und will sich nicht seiner Absicht beugen. Ein Künstler wird auf die Beschaffenheit des Materials eingehen. Er muss Feinfühligkeit entwickeln und seine Impulse darauf abstimmen. Dem Ergebnis wird man anmerken, ob der Bildhauer ausschließlich handwerklich oder im eigentlichen Sinne künstlerisch mit dem Stein umgegangen ist, ob er sein Motiv mit der Eigenart des Materials ins Gespräch gebracht und beide dadurch verwandelt hat.
Wodurch wird ein Lehrer zum Erziehungskünstler?
Nicht umsonst nehmen künstlerische Erfahrungsfelder an den Waldorflehrerseminaren einen beträchtlichen Raum ein. Künstlerische Tätigkeit erweitert nicht nur die eigenen Ausdrucksformen, sondern auch das Wahrnehmungsvermögen. Jede intensive Vertiefung einer künstlerischen Disziplin eröffnet neue Sichtweisen. Gerade im Umgang mit sogenannten schwierigen (besser: verhaltensoriginellen) Kindern ist der Lehrer gesegnet, der rechtzeitig einen Perspektivwechsel vornehmen kann. Die Kunst lenkt die Aufmerksamkeit auf Form und Farbe, auf Klang und Harmonie, auf Geste, Mimik und Bewegungsarten. Atmosphärisches wird spürbar, ein intuitives Erfassen stellt sich allmählich ein. Im Zusammensein mit Kindern geschieht oft Unvorhergesehenes. Wie wichtig ist hier Einfallsreichtum.
Jedem Kunstwerk geht ein künstlerischer Prozess voraus. Dieser Prozess ist nicht voraussetzungslos. Er benötigt einen Raum, in dem er sich entfalten kann. Aber nicht nur einen äußeren Raum, in dem er in Erscheinung tritt, sondern auch einen inneren Raum, einen Seelenraum, in dem Fragen, Interesse und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung wachsen können.
Wie in jedem künstlerischen Prozess werden sich in diesem inneren Geschehen nach einer Anfangsbegeisterung notgedrungen schon bald Krisen einstellen. Welcher Lehrer kennt nicht die Momente quälender Unsicherheit: Erreiche ich die Schüler? Ist nicht die gesamte zurückliegende Epoche misslungen? Diese Selbstzweifel führen nicht
selten gerade bei Berufsanfängern zum verfrühten Abbruch ihrer Lehrertätigkeit. Doch halt! Der Bildhauer Alberto Giacometti ermutigt uns, nicht vorschnell aufzugeben. Im Scheitern sieht er eine Chance: »Je mehr man scheitert, desto erfolgreicher ist man. Wenn alles verloren ist und man dann, statt aufzugeben, doch weitermacht, so erlebt man den einzigen Augenblick, wo die Aussicht besteht, ein bisschen vorwärts zu kommen. Man hat plötzlich das Gefühl, und wenn es nur eine Illusion ist, dass sich etwas Neues aufgetan hat.«
Dem Neuen einen Raum geben
Wieder geht es darum, dem Neuen Raum zu geben. In jedem künstlerischen Prozess tun wir Schritte, durch die sich Erfahrungsbereiche öffnen, die uns bisher unbekannt und fremd waren. In diesen Phasen müssen Verunsicherungen, ja sogar Ängste oder Aggressionen ausgehalten werden. Viele Künstler können von solchen existenziellen Krisen berichten. Rückblickend beschreiben sie solche Einschnitte als Phasen einer notwendigen Verwandlung, die vollkommen neue künstlerische Ausdrucksformen hervorbrachte.
Gerne greift ein Lehrer auf bewährte Arbeitsblätter und Unterrichtsformen zurück. Wer wollte es ihm bei der häufig anzutreffenden Arbeitsüberlastung verübeln? Doch schleichen sich unmerklich Gifte für eine lebendige Begegnung mit den Kindern ein, nämlich Routine, Konvention und Phrase. Jeder Kunstform ist jedoch Bewegung, also Beweglichkeit, eigen. Die Künste bieten uns einen Reichtum an Vielseitigkeit und Abwechslung.
Einige Jahrzehnte nach Steiner sorgte ein bis heute umstrittener Künstler für eine neuerliche Erweiterung des Kunstbegriffes: »Jeder Mensch ist ein Künstler.«
Doch wird dieser Satz, für den Joseph Beuys viel Unverständnis erntete, meist nicht in seinem Zusammenhang wiedergegeben. »Jeder Mensch ist ein Künstler. Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt. Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.«
Nehmen wir Beuys beim Wort, so treffen in einem Klassenzimmer viele Erziehungskünstler aufeinander – zum einen der sich bewegende Lehrer, zum anderen die sich körperlich, seelisch und geistig bildenden Kinder. Der Erziehungskünstler bietet den Raum, in dem sich die schöpferischen Kräfte der Heranwachsenden entfalten können. Schiller sah im Spieltrieb die eigentlich schöpferischen Kräfte des Menschen. Beuys bezieht auf oft extreme Art den Spieltrieb in sein Schaffen ein. Er betonte in seinen Installationen und Aktionen für viele Zeitgenossen in irritierender Weise die einem Kunstwerk zu Grunde liegende Bewegung. Das Resultat erinnert im besten Falle an den vorausgegangenen Prozess. In seinen Fluxus-Aktionen ließ er Sprache, Klang und Plastik ineinanderfließen. Dadurch demonstrierte er, dass nur der sich bewegende, auf Material und Umgebung und sowohl auf äußere wie auch innere Umstände eingehende Mensch Neues hervorzubringen vermag.
Was brauchen unsere Kinder, um einmal Neues hervorbringen zu können?
Drei Voraussetzungen sind unentbehrlich: Zum einen braucht jedes Kind seine persönliche Entwicklungszeit, in der es zu sich selber findet und seine schöpferischen Kräfte entfalten kann. Zum anderen bedarf es eines unabhängigen, geschützten Raumes, eines Ateliers, in dem sich die Heranwachsenden, frei von ökonomischen Zwängen, in möglichst vielseitiger Weise ausprobieren können. Und nicht zuletzt sind Erziehungskünstler gefragt, die aufmerksam werden auf die den Kindern innewohnenden Kräfte und Impulse. Eine Pädagogik, die sich als Kunst versteht, trägt dazu bei, Ausdrucksformen zu finden für das Unbekannte und Unaussprechliche, dem die Kinder in der Welt und in sich selbst begegnen.
»Je mehr man scheitert,
desto erfolgreicher ist man.«
Alberto Giacometti
Zum Autor: Ulrich Kling war als Klassen- und Musiklehrer an der Inkanyezi-Waldorfschool in Johannesburg/Südafrika und an der Freien Waldorfschule Tübingen tätig. Heute unterrichtet er an der Freien Waldorfschule in Backnang.
Literatur:
Heiner Stachelhaus: Beuys, Berlin 2006 | Hayo Düchting: Cezánne, Köln 1999 | Robert Goldwater: Gauguin, Köln 1989 | Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso, Köln 1991 | James Lord: Alberto Giacometti, Zürich 2004