Ausgabe 03/24

Von falschen Bildern, No-Gos und Oasen in Waldorfschulen

Stefan Grosse
Christian Boettger

Christian Boettger | Wir haben viel zu wenig ausgebildete Lehrkräfte in den Schulen, glauben aber, dass es das Potenzial von Lehrkräften geben muss, weil es die Kinder gibt, die unterrichtet werden wollen und die lernen wollen. Wir wissen nicht, wo wir diese Lehrkräfte finden oder ob sie uns überhaupt sehen. Daher stellt sich die Frage, wie wir sichtbar werden für potenzielle Lehrkräfte. Stefan, wir wollten mit unseren Delegiertentagungen in dieser Richtung etwas für unsere Schulen tun. Entscheidend dafür ist auch die Frage, was Anthroposophie in der Waldorfpädagogik bedeutet. Welche Anthroposophie-Rezeption haben wir? Denn dieser Punkt wird öffentlich immer wieder moniert. Wir merken, dass bei unseren Eltern und auch in den Schulen Bilder existieren davon, was Anthroposophie ist, die nicht deckungsgleich sind mit den Gesichtspunkten, die wir haben und mit dem, was wir mit der Anthroposophie wollen.

Stefan Grosse | Ja, es gibt eine gewisse Tradition in der Rezeption, die ich in Frage stelle. Sie ist sehr esoteriklastig und für die Außenwelt nicht diskursfähig. Wenn ich zum Beispiel für gegeben nehme, dass es eine geistige Welt mit allerlei Wesen gibt und das nicht weiter bespreche, sondern das eins zu eins umsetze in pädagogischen Maßnahmen, dann ist das nicht zielführend. Ein Schritt, um in eine Diskursfähigkeit zu kommen, wäre es, den Fokus viel stärker auf die philosophischen Schriften von Rudolf Steiner zu richten, weniger auf seine Vorträge. In den philosophischen Werken findet man sehr gute Anregungen dazu, wie Philosophie und empirische Wissenschaften in einen fruchtbaren Dialog kommen mit Inhalten der Anthroposophie. Wir brauchen den Schwenk von einer Insidersprache hin zu klaren Gedanken, und dafür sehe ich in den philosophischen Schriften eine sichere Grundlage.

CB | Ein weiterer Aspekt ist, dass Steiner den Mitgliedern der anthroposophischen Gesellschaft immer wieder versucht hat klarzumachen: Beruft euch auf das, was ihr selbst erlebt habt, und nicht auf das, was ich euch irgendwann einmal erzählt habe, sondern arbeitet selbst. An vielen Stellen vertrauen wir darauf zu wenig.

SG | Steiner hat darauf verwiesen, dass die Waldorfschule eine Methodenschule und keine Weltanschauungsschule sein soll. Das heißt, Anthroposophie sollte kein Lehrinhalt in der Schule sein. Es ist aber so, dass das doch vorkommt. Ein Beispiel sind die Geschichtslehrpläne. Darin gibt es Inhalte, die aus der Anthroposophie kommen.

CB | Ich würde das sogar noch schärfer formulieren: Da wird etwas, das Steiner über die Kulturepochen erzählt hat, eins zu eins übernommen, ohne historisch genau hinzuschauen. Das kann man den Kindern so nicht vermitteln – eine Erzählung als Geschichtsunterricht!
Besser funktioniert es in den naturwissenschaftlichen Fächern. Dort wird phänomenologisch vorgegangen. Das ist vertretbar, und für die Unterrichtsinhalte der Oberstufe stehen wir in fachlichem Austausch mit Personen mit hoher wissenschaftlicher Reputation.
Anthroposophie und ihre Rezeption – das ist das Feld, das wir auf der ersten Delegiertentagung im Januar 2023 in Berlin versucht haben aufzuschließen. Das zweite große Feld ist dasjenige mit der Frage, wie wir für die Menschen wirken, die wir schon gefunden haben. Wie begegnen wir den ankommenden Lehrkräften in den Schulen. Darum soll es bei den nächsten Delegiertentagungen gehen.

SG | Als ich als junger Lehrer frisch vom Seminar kam, wurde ich vor Klassen mit über 40 Zweit- oder Drittklässlern gestellt – mit der freundlichen Aufforderung: «Mach mal! Das wird schon.» Das wurde aber nix. Das war sehr hartes Lehrgeld und es hat sich lange Zeit absolut niemand darum gekümmert, was da passierte – mit mir und mit den Schüler:innen. Das ist ein No-Go und so kann man es nicht mehr machen. Faktisch muss die Ausbildung in den ersten drei Jahren in der Schule weitergeführt werden.

CB | Mir ging es vor 30 bis 40 Jahren genauso. Inzwischen haben wir eine ganze Menge gemacht. Wir haben zum Beispiel Mentor:innen ausgebildet und ein Mentoring an den Schulen eingeführt, aber wir haben trotzdem viel zu wenig auf ein professionelles Personalmanagement geblickt. Das beinhaltet zwei Fragen: Wie kümmere ich mich als Arbeitgeber um meine Mitarbeitenden und wie kann es denen, die da neu kommen, gelingen, wirklich Fuß zu fassen in dieser komplexen Einrichtung Schule? Sie ist einerseits Arbeitsplatz und andererseits Gestaltungsfeld der persönlichen Initiativkräfte und in einer Einrichtung von mindestens 40 Menschen (bei einer einzügigen Schule) braucht man heutzutage ein richtig gutes Personalmanagement.

SG | In diesem Bereich sind wir von der normalen Arbeitswelt längst überholt worden. Das ist in unserer Selbstverwaltungskultur oder -unkultur nicht gut gegriffen worden. Jetzt ist es aber erkannt und wir nehmen dieses Arbeitsfeld in Angriff. Dazu gehören zum Beispiel ein verringerter Deputatsumfang, ein Mentoring, eine Feedbackkultur, und die Neuankommenden müssen auch in dem, was sie zusätzlich in der Selbstverwaltung leisten, gut begleitet werden. Wenn sie das nicht bekommen, ist die Bugwelle, vor der sie stehen, zu groß und frustrierend.

CB | Wir können es uns nicht mehr leisten, einen Menschen nach dem anderen in unseren Schulen zu verschleißen. Durch diese vielen Wechsel, die einige Schulen hatten, bürdet man den Neuankommenden immer mehr auf, weil man schon so ausgebrannt ist, aber es ist unmöglich, einem Ankommenden in einer Schule im ersten Jahr entscheidende Posten in der Selbstverwaltung zu übertragen wie das Abiturmanagement zum Beispiel. Das kam vor, aber das kann nicht sein.
Ein weiteres Feld, das wir bearbeiten wollen auf einer der nächsten Delegiertentagungen, ist die Wirtschaftlichkeit. Klar ist, dass wir deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müssen, um Menschen in die Schule zu integrieren, die aus der Ausbildung kommen. Wir können nicht meinen, wer ausgebildet ist, ist fertig. Sondern die Ausbildung wird in den ersten drei Jahren in der Schule weitergeführt. Um das in Form von Weiterbildungen zu gewährleisten, muss die Schule unseres Erachtens auch Geld in die Hand nehmen.

SG | Eine grundständig in fünf Jahren akademisch ausgebildete Lehrkraft müsste man finanziell mit 100.000 Euro taxieren. Das ist viel Geld für eine vergleichsweise kleine Schulbewegung und insofern müssen wir das als etwas sehr Wertvolles betrachten.

CB | Ein erfahrener Kollege aus einer Schule hat mal zu mir gesagt, er rechne nochmal mit 25.000 Euro, wenn jemand zu ihm in die Schule käme, um ihn auch in der Schule zu halten, um dafür zu sorgen, dass er dableibt. Das ist richtig viel Geld, aber ich denke es ist richtig, sich von vornherein klarzumachen, dass es eben auch finanzielle Mittel braucht.

SG | Auf der anderen Seite leiden genau wie die Schulen vor allem die Ausbildungsstätten an Geldmangel. Sie geben sich die größte Mühe, sich nach der Decke zu strecken, aber das ist eine Mangelverwaltung und wenn man offen und wahrhaftig über diese Situation spricht, dann müsste man sagen, die Ausbildungsstätten bräuchten deutlich mehr Geld – auch um konkurrenzfähig zu bleiben. Und wenn wir den Fokus auf unsere Hochschulen richten, dann müsste man einen größeren Teil als bisher für die Forschung ausgeben, damit dort Sinnvolles passiert und nicht Staubfänger im Bücherregal produziert werden. Also auch die Forschung müsste finanziell ertüchtigt werden, damit sie noch mehr leisten kann. Die Hochschulausbildung ist deshalb so wichtig, weil die innere Haltung, die Gedankenschärfe, die geistige Anstrengung, die durch gute Forschung und Lehre entwickelt werden, für den Lehrerberuf unerlässlich sind. Mit einem inneren Ruck muss sich eine Schulbewegung irgendwann wirklich dafür entscheiden und sagen: Das wollen wir, das brauchen wir! Denn wir wollen ja nicht Lehrer:innen, die für das Hantieren mit Rezeptkarten ausgebildet wurden, sondern wir brauchen Lehrer:innen, die selber unabhängig und frei denken. Das muss der Leitstern einer guten akademischen Ausbildung sein. Und diesem Stern folgen unsere Hochschulen auch, aber unter finanziell erschwerten Bedingungen, und das ist auf Dauer nicht erfolgversprechend.

CB | Das ist etwas, was dem augenblicklichen Mainstream entgegengesetzt ist. Der baut darauf, dass wir Ängste vor der individuellen Entscheidungskraft und der Initiativkraft haben. Alles muss deshalb geregelt und normiert werden. In den Waldorfschulen arbeiten wir dagegen in einer Parallelwelt. Jedoch arbeiten wir immer mit dieser Knappheit. Wir haben deutlich geringere Gehälter und überhaupt deutlich weniger Geld zur Verfügung. Aber wir stellen uns seit Jahrzehnten dieser Herausforderung und das einzige, was meiner Meinung nach dagegen hilft, ist eine Begeisterung für diese Oasen-Situation, in der es möglich ist, etwas zu entwickeln und sich zu entfalten.

SG | Der Waldorfalumnus Andreas Schleicher sagte in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung, er habe den Eindruck, die deutschen Lehrkräfte seien die unkritischen Vollstrecker eines Lehrplans, müssten aber eigentlich Begeisterung und Initiative aus einem pädagogischen Blick heraus entwickeln und sowohl inhaltlich als auch pädagogisch viel freier agieren. An Waldorfschulen können Lehrer:innen das. Für jemanden, der das wertschätzen kann, diese Möglichkeit, sich wirklich aus Freude und Idealismus heraus in Freiheit dem Beruf zu widmen, für so jemanden bieten die Waldorfschulen unglaublich viel. Und ich glaube, das wiegt ein paar Euro weniger im Gehalt am Ende auch auf.

Das Gespräch moderierte und protokollierte Anne Brockmann.

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