Alljährlich erfreuen die lustigen Hirten des Oberuferer Christgeburtsspiel die Gemüter der Zuschauer und zeigen in eindrucksvoller Art, wie sie, die keineswegs von Natur aus brav sind, durch die Geburt des Christuskindes gleichsam fromm werden. Gallus nämlich nutzt die Klagen der anderen über die ungerechte Steuerschätzung des Kaisers Augustus, mit der ja auch Josef und Maria ihre große Not haben, um seinen Hirtenbrüdern weis zu machen, der Wolf habe ihm Schafe geraubt – obwohl er sie doch insgeheim dem Metzger verkauft hat. Stichl aber hat gut aufgepasst und gesehen, was im Dunkel bleiben sollte. Im Laufe des sich steigernden Streites möchte Gallus gerne Stichl auf seine Seite ziehen: er bietet ihm die Hälfte der Beute an. Stichl weist dies empört zurück und so geht der Streit weiter, bis Witok dazwischentritt. Beim gemeinsamen Mahl schließlich sitzen die drei wieder einträchtig zusammen.
Der erste, Gallus, hat etwas getan, was er offensichtlich – moralisch gesehen – nicht richtig überlegt hat. Stichl weiß davon. Zu ihm gehört die Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit, das Denken. Witok vermittelt durch seine Gefühlstiefe und bringt dadurch auch das Gespräch auf ernste Inhalte. So zeigt sich bei den Dreien eine charakteristische Folge: zuerst das Tun, das ja wie im Schlaf verläuft, darauf dann das Erwachen des Bewusstseins und schließlich das vermittelnde Fühlen, das das Innere erfüllt. Entsprechend kann zuerst Stichl den Traum, in dem ihnen die Engel erscheinen, ins wache Bewusstsein hinaufrufen.
Wir können so in den drei Hirten unsere Seelenkräfte erkennen: bei Gallus das Wollen, das leiblich auch mit der Galle zusammenhängt, bei Stichl das Denken (man mag hier an »Sticheln« denken) und bei Witok das Fühlen. Schon beim Auftritt erscheinen die drei in der geschilderten Reihenfolge. Warum aber wundern sie sich darüber? Haben sie es etwa anders erwartet? So stellt sich die Frage, wie es denn richtig sein müsste. Und wirklich: sprechen wir nicht gewöhnlich von Denken, Fühlen und Wollen? Erst bedenken wir etwas gründlich, dann prüfen wir es mit unserem Gefühl und erst danach setzen wir es mit Hilfe unseres Willens um. Das ist der normale, sozusagen sichere Weg. Er baut auf den Vergangenheitskräften des Denkens auf und schreitet von da sorgfältig in die Zukunft. Bei den drei Hirten aber scheint etwas in Unordnung gekommen zu sein. Warum steht das Wollen an erster Stelle?
Immer wenn etwas wirklich Neues geschehen soll, muss der sichere Pfad des Lebens verlassen werden. Dann muss man handeln, ohne zu wissen, und das bedeutet immer ein Risiko. Und was die drei Hirten zusammen als »Seelenleben« repräsentieren, ist alles andere als »geordnet«. Sie sind in einem Aufruhr, sind aufgewühlt und ringen heftig um ein Gleichgewicht untereinander. Dem ungezähmten Willen folgt das Denken und dann kann beides erst neu in Harmonie gebracht werden. So ein Kampf spielt sich in uns ab, wenn wir in einer Krise sind. Das aber ist der Seelenzustand, in dem das Geisteskind, das wahre Ich, aufgenommen werden kann. Seiner ordnenden Kraft beugen sich dann die widerspenstigen Rücken.
»Bis d’hikummst« – Crispus
Die Hirten stehen als Dreiheit der Seelenkräfte vor uns. Was aber ist mit dem vierten? Crispus gehört nicht zum Spiel der Seelenkräfte dazu, er erfährt auch nicht die Offenbarung durch die Engel (sondern hört das »Geschrei« des Volkes) und betet (noch) nicht vor der Krippe. Aber er will sich auf den Weg machen, dies alles auch zu erleben, auch dahinzukommen. Wofür steht er? Er ist charakterisiert durch seine Hüllen, in die er sich ganz hineinversetzt hat. Und so wird sein Geschenk auch darin bestehen, etwas von diesen Hüllen, nämlich einen »Zipfel Pelzwerk« zu opfern. Auch sein Name trägt dieses Geheimnis in sich. Nur einen Buchstaben braucht man nämlich auszuwechseln, dann wird er zu »Christus«.
Das geistzentrierende »T« ersetzt dann das hüllenbildende »P«. So können wir Crispus wohl als das Alltags-Ich sehen, das sich auf die leiblichen Hüllen stützt und nun auch aufgerufen ist, etwas davon abzugeben und sich auf den Weg zu machen. Im Zuruf »Bis d’hikummst« liegt, dass es ein individueller Weg ist, den jeder Mensch in seiner Biographie erst gehen muss.
»Hab in meinem Haus und Logament G’walt’« – die Wirtsleute
Für die Hirten ist die Christgeburt zum Zentrum geworden, auf das sie sich zubewegen. Dabei führt sie ihr Weg auch durch finstere Nacht, durch Zweifel und Not: »Ich weiß nicht mehr ein und aus.« Auch Maria und Josef mussten sich auf den Weg machen, mussten durch Not und Kälte gehen. Für Josef steht die Not gleich am Anfang: seine Kräfte haben abgenommen, das Handwerk weiß er nicht mehr zu üben und Geld mangelt an allen Enden. Doch mit seiner letzten Kraft will er sich noch aufraffen. Maria, die junge Seele, will ihn trösten, doch er kann es zunächst noch nicht annehmen. Auf dem Weg nach Bethlehem kehren sich die Verhältnisse um. Josef eilt nun voraus, der nahen Stadt zu, während Maria am Ende ihrer Kräfte ist. Wiederholt muss sie ihn rufen, bis er schließlich auf sie eingeht und sie zu den Wirten geleitet.
Diese aber brauchen sich nicht auf den Weg zu machen: das Ereignis der Ich-Geburt kommt ohne ihr Zutun zu ihnen, will bei ihnen Platz finden – doch sie bieten ihm keinen Raum. Andere sind zuvorgekommen, wichtigere Gäste, die mehr bezahlen können. Der Besitz, das Haben, ist auf die Vergangenheit orientiert. »Ich als Wirt von meiner Gestalt (=Stellung) hab in meinem Haus und Logament G'walt« sagen die Wirte und sprechen damit ihr Wesen aus. Doch ist es wirklich wahr? Übt nicht vielmehr der Besitz Gewalt auf den Besitzenden aus, bestimmt ihn in seinem Handeln? Der erste Wirt sagt, Maria und Josef sollen sich »woanders hinwenden, besetzt sei sein Logament«. Hier ist auf den Raum verwiesen und das Gesetz jedes physischen Körpers ausgesprochen: wo einer ist, kann nicht gleichzeitig ein anderer sein. Der zweite Wirt verweist auf die fehlende Beziehung. Er habe nichts mit den beiden zu »schaffen« und könne »von anderen mehr haben«. Die grobe Art der Äußerung verdeckt leicht, was er eigentlich sagt. Mit jemandem etwas zu schaffen zu haben, ist Tätigkeit, das Mehr ist Wachstum. Der Ätherleib ist hier erlebbar. In ihm liegt aber auch das Temperament begründet.
Dem dritten Wirt geht es nahe, die Frau weinen zu hören. Das hält er nicht aus und möchte deshalb gutmütig Abhilfe schaffen. Doch auch er will das Paar, die nahende Geburt und später das Kind nicht da hinein lassen, wo er selber wohnt: in seinen bewussten Seelenbereich. Dort finden andere Gäste, auch später noch, nach der Geburt, Platz. Nur da, wo die Tiere leben, im Stall, darf das Neue Einzug halten. Der Stall, die Tiere – sie gehören zu den unterschwellig träumenden Bereichen unserer Seele, die noch ganz den Lebensprozessen verbunden sind, also dem Empfindungsleib. Da, wo der Wirt selbst wohnt, wäre dagegen bereits die Empfindungsseele anzusetzen. Niemanden leiden sehen zu können, ist noch kein wirkliches Mitleid, sondern gehört ebenfalls noch zum Empfindungsleib.
In der Folgerichtigkeit ihres Aufbaus verraten die Oberuferer Weihnachtsspiele ein tiefes Wissen, das besonders dem bewusst sein sollte, der diese Spiele in Szene setzt. Dadurch kann dann ein Gerüst entstehen, auf dem durch engagiertes, innerlich ergriffenes und erfülltes Spiel vor den Seelenaugen des Zuschauers Bilder, Imaginationen, erscheinen können, die ihm Weltgeheimnisse offenbaren.
Zum Autor: Martin-Ingbert Heigl ist Eurythmist, Heileurythmist und Sprachgestalter an der Freien Waldorfschule am Illerblick, Ulm. www.widar.de
Literatur: Rainer Marks: Die Oberuferer Weihnachtsspiele, Dornach 1997. Der Schilderung der Hirtenszene liegt diese nach alten Quellen rekonstruierte Textfassung zugrunde.