Dieser Frage geht Wilfried Kessler in seiner Schrift «Der moderne Geistesweg» nach. Er bringt den Leser auf die Spur durch seine sichere Vertrautheit mit der imaginativen Sprache der Märchen. Der Autor macht darauf aufmerksam, dass die Dummlingsmärchen im Zusammenhang mit der Grals- und der an sie anschließenden Rosenkreuzerströmung zu sehen sind, Strömungen, die um die Zerstörungskräfte der gerade aufkommenden Intellektualität wussten und deswegen prophylaktisch geistige Geheimnisse in Form von Märchen verbreiteten, als «Erzählungen vom übersinnlichen Menschen». Aber auch die große Parzival-Legende und «Peronnik, der Einfältige» dringen zur selben Zeit in die abendländische Zivilisation ein.
Kessler beleuchtet zunächst in knapper Form das Wesen der Dummheit. Sie ist weniger ein Kontrast zur Intelligenz, vielmehr ist gerade die Gelehrtheit mit Dummheit gut vereinbar, – als Blindheit für soziale Prozesse etwa. Der Dummling, schreibt Kessler, »ist der einzige, der sich stets auf den Weg begibt und sich jeder Prüfung vorbehaltlos stellt. Nimmt er unser aller Zeitenschicksal, dumm vor der geistigen Welt zu sein, ganz bewusst an und geht den Weg, bis er in Weisheit regiert? Trägt er schon die tieferen, moralischen Kräfte als Keim, der der Entwicklung harrt, in sich?»
Als Tor, dem niemand etwas zutraut, verspottet und verlacht, gewinnt, wenn wir ehrlich sind, beim Hören oder Lesen eines dieser Märchen der Dummling unsere ungeteilte Sympathie und unser Vertrauen! Der Autor spricht von einer «unverbrauchten Kraft, von Zukunftskräften umhüllt» – ihr gilt unsere geheime Hoffnung.
Das Buch führt auf die Suche nach den vielen Facetten dieser Gestalt und mit großer Freude gewinnt man als Leser:in Schlüssel um Schlüssel, um das Wesensbild des Dummlings anzureichern. Es lässt uns immer sicherer werden in der Bildsprache der Märchen.
Warum etwa liegt der Aschenhannes auf dem Ofen? Oft sind es gerade die schnell übergangenen Einzelheiten, die entscheidende Hinweise geben – das lernen wir von Wilfried Kessler. «Sind wir ganz anwesend, so sind wir ganz durchwärmt. Das Ich, der Ich-Wille lebt in der Wärme, dem Ofen.» Auf dem Ofen zu liegen kennzeichnet hier den schlafenden Willen, der sich dem entzieht, was der Mensch in seinem Wachbewusstsein trägt. Und die Asche? Hier findet ein Läuterungsprozess statt, denn das Geheimnis der Asche ist, laut Rudolf Steiner, «auf dem Wege der Materie» für den Geist empfänglich zu werden.
Die vielen besprochenen Märchen schenken eine Fülle von Erkenntnissen über unsere Dummlingsnatur, die auch in jenen Märchen ins Bild gebracht wird, wo es um drei Schwestern geht, wie im bekannten Aschenputtel oder Die Gänsehirtin am Brunnen.
Zum Schluss geht Wilfried Kessler fragend nach dem Zusammenhang der Dummlingsgestalt mit Johannes nach, «dem Jünger, den der Herr lieb hat» – trägt er doch stets seinen Namen: Hans, Hannes, Kienspanhannes, Dummer-Jan, Iwan, Janko usw. …
Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall. Einen besonderen Gewinn tragen, wie auch bereits durch Kesslers kleine Schrift «Das Mädchen ohne Hände», die auf pädagogischem Feld tätigen Menschen – also auch Eltern – davon. Die Abkehr von der einseitigen Ausbildung des Intellekts erhält auf märchenhafte Weise Nahrung und Bestätigung.
Wilfried Kessler: Der moderne Geistesweg. Der Dummling in den Volksmärchen. 224 Seiten, erhältlich im www.bod.de/buchshop/ oder im Buchhandel : ISBN 978-3-7568-8893-1 oder beim Autor: k.w. kessler@web.de. 16,50 Euro.
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