Goethe arbeitete viele Jahre an einer Erneuerung der Naturbetrachtung. In der Biologie und in der Forschung über die Farben hat er seine phänomenologische Betrachtungsweise ausgearbeitet. Am Beispiel seiner Farbenlehre kann gezeigt werden, wie eine waldorfspezifische Vorgehensweise zu lebendigen Begriffen führt.
Für ein goetheanistisches Verständnis eines Gebietes der Physik ist das Auffinden der sogenannten Urphänomene von zentraler Bedeutung. Goethe (1810a) selbst hat diesen Begriff im Zusammenhang mit der Farbentstehung gebildet, und Rudolf Steiner (1886) hat seine erkenntnistheoretische Bedeutung für die anorganische Natur herausgearbeitet. Ist das Urphänomen gefunden, sollten alle anderen Erscheinungen des betreffenden Gebietes als Abwandlungen desselben verstanden werden können.
Die 12. Klasse unternimmt in der Physik-Epoche zur Optik einen Durchgang durch die Modelle des Lichtes – Welle, Strahlen, Teilchen – und kommt dann zur Farbenlehre Goethes, die nicht mit Modellen arbeitet, sondern die physikalischen Begriffe an der Wahrnehmung bildet. Alles wird am Phänomen untersucht und daraus eine Gesetzmäßigkeit abgeleitet.
Das Phänomen Licht lässt sich in der Farbenlehre Goethes mittels der Farbentstehung bei den physischen Farben »ans Licht bringen«.
»Farben sind Taten und Leiden des Lichtes« (Goethe)
Im Unterricht nehme man zum Beispiel einen Diaprojektor und steigere langsam die Anzahl von Butterbrotpapierschichten (Pergament), die man vor die Linse hält. Die Schüler beobachten, wie sich die Farbe auf dem Papier vom hellen Gelb zum dunklen Gelb, über das Orange bis zum Rot und dann zum Dunkelrot verfärbt, bevor die Farbe bei sehr dichter Schicht, Goethe nannte das die Trübe, verschwindet.
Soweit zur Durchführung und zur Beobachtung. Die Schüler schreiben das alles auf, führen ihr Epochenheft, und gestalten es übersichtlich.
Nun schließt sich, möglichst am nächsten Tag, das Gespräch über die verwendeten Mittel und die Erklärung an, wo und wie die Farbe auftritt. Es wird aus den Schilderungen der Schüler eine Skizze an der Tafel erstellt, die nur die Essenz der Sache darstellt.
Hier also das Licht, das Trübe und das Auge des Betrachters. Das Phänomen wird ins Bild gebracht, und es wird dabei klar, dass die Farbe aus einzelnen hintereinander angeordneten farblosen Elementen entsteht. Das Licht des Projektors ist farblos, das Butterbrotpapier auch. Durch das Zusammenspiel dieser farblosen Elemente mit dem menschlichen Auge wird Farbe auf der trüben Schicht sichtbar.
Die Schüler werden nun aufgefordert, aus ihren Wahrnehmungen ein Gesetz zu formulieren. Wann entsteht Farbe?
Dieser Vorgang ist immer ein schöner Prozess, da er zeigt, wie aus den verschiedenen Äußerungen der Schüler am Ende eine formulierbare Gesetzmäßigkeit entsteht, die alle mit größter Zufriedenheit erfüllt. In diesem Fall resultiert das Gesetz: Licht durch Finsternis betrachtet, ergibt die Farben Gelb bis Rot oder im Sinne Goethes: Licht durch Trübe ergibt die warmen Farben des Farbenkreises Gelb bis Rot. Hier wurde nun ein Begriff der Farbentstehung entwickelt, den der Schüler als gelernten Inhalt aufnimmt und als Gesetz im Epochenheft, bestenfalls in einem rot umrandeten Kasten, aufschreibt.
Es schließt sich die Frage an, wo findet man dieses Phänomen in der Natur? Gibt es konkrete Anwendungsmöglichkeiten für diese Gesetzmäßigkeit?
Die Schüler sind nun aufgerufen, den gelernten Begriff auf das Leben, auf die Natur anzuwenden. Hier findet man verschiedene Anwendungen. Dabei bleibt das Denken nicht bei der Darstellung an der Tafel oder bei der Formulierung des Gesetzes stehen, sondern es muss den Sachverhalt verlebendigen und in die Realität bringen. Zum Beispiel sagt ein Schüler: »Ja, das ist bei einem Sonnenuntergang genauso, man betrachtet die Sonne, vor der gewisse trübe Luftschichten liegen – besonders gut am Meer oder in der Wüste zu beobachten.«
Damit hat der Schüler das Aufgenommene abstrahiert, das Denken lebendig gemacht und eine Anwendung in der Natur gefunden. Das Gesetz ist für ihn zum lebendigen Begriff, also zu einem bewegten Bild, geworden, dessen er sich jederzeit bedienen kann. Genauer: der Schüler hat einen statischen Zusammenhang, in diesem Fall das Tafelbild zur Entstehung der warmen Farben in seine Wahrnehmung als Bild aufgenommen und denkerisch zu einem neuen Begriff, nämlich der Entstehung des Gelb-Rot, verarbeitet. Diesen neuen Begriff wendet er wiederum auf seine bisherigen Wahrnehmungen an. Phänomene dafür finden sich in der Natur, in unserem Fall die tief stehende Abendsonne, vor der sich farblose trübe Schichten befinden, zum Beispiel der Wasserdunst über dem Meer oder die Sandpartikel in der Wüstenluft.
Das Bild von der Tafel verlebendigt sich und bildet sich im Denken als rein gedanklich erfasster Zusammenhang, ist also nicht mehr Bild. Aus diesem lebendigen Begriff können viele weitere Bilder durch Intuition entstehen. Rudolf Steiner schreibt dazu in Die Philosophie der Freiheit (GA 4) in dem Kapitel »Das Erkennen der Welt«: »Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen.«
Das Gleiche ließe sich für die kalten Farben Grün und Blau zeigen, indem man eine aufgehellte Trübe vor einem dunklen Hintergrund betrachtet. So ist das beim Himmelblau, wo die trübe Ozonschicht, von der Sonne aufgehellt, vor dem schwarzen Weltraum blau ist.
Wird der naturwissenschaftliche Unterricht in der Oberstufe auf eine solche Art und Weise gestaltet, dann bilden sich in dem Schüler lebendige Begriffe, die er im Weiteren anwenden und bei Veränderungen des Wahrgenommenen auch erweitern kann. Kommt zu dem Erlernten eine weitere Wahrnehmung hinzu, beispielsweise wenn bei den prismatischen Farben durch Überlagerung des Gelb mit dem Blau das Grün entsteht, dann erweitert sich die Begrifflichkeit der Schüler auf ein neues Gebiet, das der Mischfarben.
Bezüglich des Denkens der Schüler ist wichtig, dass nicht festgeschriebene Definitionen erlernt werden, sondern dass abstrakte Begriffe wieder (inneren) Bildcharakter bekommen. Dieser entsteht, indem der Begriff von der Persönlichkeit durch eigene Gefühle und Ansichten gefärbt, das heißt, individualisiert wird. Begriffe werden und bleiben dann lebendig, wenn sich der Schüler sowohl in seinem Denken und Wollen als auch seinem Fühlen weiterentwickelt.
Damit kann ein erlernter Begriff als lebendiges Bild immer wieder neu – dem Entwicklungsstand des Schülers entsprechend – wiedergegeben werden. (vgl. Erziehungskunst, 12/2019).
Goethe spricht in dem Gedicht »Freunde, flieht die dunkle Kammer« über seine Farbenlehre:
Wenn der Blick an heitern Tagen
Sich zur Himmelsbläue lenkt,
Beim Sirok der Sonnenwagen
purpurrot sich niedersenkt,
Da gebt der Natur die Ehre,
Froh, an Aug und Herz gesund,
Und erkennt der Farbenlehre
Allgemeinen, ewigen Grund.
Zum Autor: Dietmar Kasper ist Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Mittelrhein.