Wärmezelle

Es ist die entscheidende Bitte, die jeder Mensch an seine Mitmenschen richtet: Nimm mich an, bejahe mich, wie ich bin – dulde mich nicht nur. Zu dieser Sehnsucht nach Anerkennung gehört die Frage, ob der Andere etwas von meinem Wesen, was noch nicht da ist, sehen und – im glücklichsten Falle – sichtbar machen kann. Die beiden Bitten ›Nimm mich, wie ich bin‹ und ›Nimm mich, wie ich noch nicht bin‹ sind widersprüchlich und doch zwei Seiten einer Medaille. Weil Kinder vor allem Werdende sind, heißt Kindheit: hoffen, dass jemand da ist, der diese unbekannte Zukunft zu entdecken vermag. Wie oft enttäuschen wir Erwachsene durch normierte Pädagogik und zu wenig Einfühlungsvermögen hierin die nächste Generation? Und wo mag diese Sehnsucht größer sein, als bei den Kindern, bei denen keine Stunde vergeht, ohne dass sie ermahnt werden, ohne dass sie zu hören bekommen, was sie falsch machen. Oft ist ihr Umkreis ratlos wie sie selbst, angesichts der Steine auf ihrem Entwicklungsweg.

Rudolf Steiner sammelte seine ersten pädagogischen Erfahrungen in der Familie Specht an »Kindern mit besonderen Bedürfnissen«. In der ersten Waldorfschule widmete sich Karl Schubert solchen Kindern. In einer Zeit, in der Inklusion immer wichtiger wird, könnte es für die Waldorfschule zur Bewährungsprobe werden, wie diese Kinder gefördert und integriert werden.

Das »Kleine Klassenzimmer« der Rudolf Steiner Schule Münchenstein ist eines der zukunftsträchtigen Projekte auf diesem Feld. In Anlehnung an Henning Köhlers »Wärmezellen« kommen Kinder, die vor besonderen Herausforderungen in ihrer Entwicklung stehen, für eine Stunde oder länger in diese Spezialklasse und bilden so jeden Tag eine besondere Lerngemeinschaft. Erst hieß es »Timeout«, doch der Name stigmatisiert. Jetzt ist es das »Kleine Klassenzimmer«, das viel auf einmal ist. Es ist das Krankenzimmer, der Förderbereich und auch das Abklingbecken und ein Nest. Es ist ein Dachraum in der Schule mit vier »Lernecken«. Tische unterschiedlicher Höhe zeigen den einzelnen Lebensaltern und Lerngeschwindigkeiten ihren Platz. Christiane Hewel führt das Projekt und steht in der Vierung des pädagogischen Taubenschlages. Immer wieder beugt sie sich zu einem Jungen, der mit Buchstabenkarten »HASE« legen soll. Schon beim »H« stockt er und fängt lieber an zu singen. Dank der Beharrlichkeit und Großzügigkeit der Lehrerin steht schließlich das Wort vor dem Jungen. Das »Kleine Klassenzimmer« dient aber nicht nur diesem Schüler, sondern auch seinen Schulkameraden in seiner eigentlichen Klasse, die jetzt konzentrierter arbeiten können, und es dient dem Lehrer der Klasse, der im Spagat von Betreuung einzelner Schüler und dem Unterrichten der Klasse entlastet wird. Wolfgang Held hat mit Christiane Hewel über ihre Erfahrungen mit dem Kleinen Klassenzimmer gesprochen.

Wolfgang Held | Die Kinder kommen nach dem Hauptunterricht?

Christiane Hewel | Ja, und zwar auf verschiedenen Wegen. Es gibt die spontanen Besuche von Kindern, die vor die Türe müssen. Dann gibt es Schülerinnen und Schüler, die regelmäßig hier ihr Lernfeld haben, weil ich sie in meinen Hospitationen entdeckt habe, oder weil ein Klassenlehrer sie mir nach Absprache schickt. Bei jedem Kind legen wir einen eigenen Rhythmus fest, beispielsweise jeden Tag eine Stunde, oder einmal die Woche einen Vormittag. Die erste Doppelstunde, für den Hauptunterricht, bleiben sie in ihrer Klasse, denn da manifestiert sich die Klassengemeinschaft und zu der gehören sie.

WH | Welche Erfahrungen machten Sie im »Kleinen Klassenzimmer«?

CH | Als ich vor drei Jahren anfing, kamen die Kinder und brachten aus dem Unterricht ihre Aufgaben mit, von Englisch-Vokabeln bis Bruchrechnen und alle hatten ihre Fragen dazu. Das sprengte den Rahmen! Dann bat ich die Lehrer, die Kinder ohne Aufgaben zu schicken und fing an, künstlerisch-therapeutische Epochen zu entwickeln, wie Plastizieren, Malen, dynamisches Formenzeichnen, Fuß-Schreiben oder Werken. Das sind Epochen, die sich über ein ganzes Quartal hinziehen können. So entstand ein größerer Atem von einzelnen Lernprojekten, in die wir die Spontanbesuche integriert haben. Ein Schüler lernt hier, sich besser zu sammeln, damit er dann dem Klassenunterricht wieder folgen kann. Das gilt für die »Laufkundschaft«. Außer­dem besuche ich die Klassen und sehe, welche Kinder besondere Unterstützung brauchen. Das kann in sehr verschiedene Richtungen gehen – ein Kind braucht mehr Bewegung, ein anderes, das nicht schreiben lernen kann, ruft nach einem spielerischen Zugang zu den Buchstaben.

»Ich hätte gerne Hans dreimal die Woche«, sage ich zur Klassenlehrerin oder zum Klassenlehrer. Dann bekommt der Junge eine Aufgabe von mir, von der ich glaube, dass sie seine Entwicklung fördert. Für einen Monat oder länger taucht er dann in dieses geschützte Lernfeld ein und geht anschließend wieder zurück in seinen Klassenstrom.

WH | Empfinden sich die Kinder im »Kleinen Klassenzimmer« nicht als ausgegrenzt?

CH | Hier sind wir eine Gruppe von Schülern unterschiedlichen Alters. Das ist interessant. Jedes Kind verfolgt sein Thema, lernt aber auch die Projekte seiner Mitschüler auf Zeit kennen. Auffälligkeiten, die in der Klasse kaum tragbar sind, können sich hier in diesem halbfamiliären Rahmen besser sortieren. Zum Beispiel sieht die unruhige Drittklässlerin, wie eine Schülerin aus der ersten Klasse mit angehaltenem Atem einen Kreis malt.

WH | Welche Auszeit hat sich bewährt?

CH | Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wo die Blockaden liegen, ob im emotionalen, im kognitiven Bereich oder im Willen. Einen Monat sollten die Kinder auf jeden Fall hier sein. Die besten Erfahrungen habe ich mit der Dauer von zwei bis drei Monaten gemacht.

WH | Wie werden die Eltern einbezogen?

CH | Wenn ich die Kinder regelmäßig aus dem Unterricht herausnehme, informiere ich die Eltern. Die Entscheidung treffen aber wir Lehrer, denn es gehört zum Schulkonzept, es ist kein heilpädagogischer Förderunterricht, keine Sonder­therapie. Deshalb müssen die Eltern, im Gegensatz zu anderen Fördermaßnahmen, keine Extrakosten übernehmen. Es ist ein Entwicklungsraum, der zum Klassenleben dazugehört.

WH | Wonach richtet sich der Spielraum, den die Kinder bekommen?

CH | Wir reden in der Waldorfpädagogik viel von der Erziehung als »Kunst« und in dieser Frage ist das auf jeden Fall so, denn mal muss man freilassend sein, dann wieder konsequent und manchmal eine Grenze überschreiten. Gestern hat ein Kind geweint, weil ich unerbittlich war, aber ich wusste, nur so gelingt es dem Mädchen, mit sich ins Reine zu kommen. Das ist bei melancholischen Kindern mitunter so, da gehe ich über diesen Schmerzmoment hinaus. Diese Konfrontation geht in diesem geschützten Rahmen, weil sie hier nicht bloßgestellt sind, wie in der Klasse. Dazu muss ich die Kinder natürlich gut kennen. In der Klasse brauchen die Lehrer viel Energie, um die Konzentration und Arbeitsatmosphäre aufrechtzuerhalten. Es gibt Kinder, die schon mal eine laute Ansprache verlangen. Der kleine Schreck hilft dann, in die Aufmerksamkeit hineinzuspringen. Viel wichtiger ist aber, dass die Kinder meinen Willen spüren. Wenn wir im Kreis ein Lied singen, dann kann es sein, dass wir fünfmal anfangen, bis der Kreis endlich rund ist. Aber diese Geduld, die man in der großen Klasse kaum aufbringen kann, die macht sich für eine sanguinische Seele außerordentlich bezahlt. Ich gebe den Kindern gerne einen Fahrplan: Jetzt schreibst Du das, und dann gibt es dieses Spiel. Das gibt ihnen Sicherheit und lässt sie seltener blockieren.

WH | Wann sollte man doch nachgeben?

CH | Wenn das Problem auf der Beziehungsebene liegt fast immer. Wenn diese menschliche Beziehung noch nicht besteht, geht gar nichts. Das ist der Schlüssel. Deshalb baue ich immer zuerst eine gute, tragfähige Beziehung auf. Das kann manchen Umweg bedeuten, kann heißen, dass der Schüler sich erst mal ausruhen darf. Wenn sie dann besteht, kann ich anziehen. Vertrauen kommunizieren Kinder auf sehr verschiedenen Wegen. Allerdings – es gibt Neuntklässler, die kommen in der Pause mit dem Vorwand, sie hätten Hunger. Für solche Fälle habe ich immer etwas anzubieten. Aber dann erzählen sie noch etwas, und das ist der eigentliche Grund für ihren Besuch.

WH | Welche Perspektiven zeigen sich?

CH | Diese Frage bewegt mich oft. Da ist ein Schüler, dem das Selbstvertrauen fehlt. Wenn er nun jüngere Schüler um sich hat, dann wächst er auf einmal über sich hinaus. Mit Gleichaltrigen ist das kaum möglich. Ein Schüler mit mathematischen Schwierigkeiten musste ein Vesper für zehn Kinder gerecht vorbereiten. Weil er das schaffte, vermag er nun in seiner Klasse auf einmal auch die Mathematikaufgabe zu lösen. Diese »gastronomische« Aufgabe ist kein Unterricht und wird doch zum zentralen Unterricht. Eine Arbeit, die scheinbar nichts mit Schulunterricht zu tun hat, dient dann gerade dem Unterricht, denn hier hat er gelernt, Verantwortung für sich zu übernehmen und mit dieser neuen Fähigkeit kann er plötzlich die quadratische Gleichung lösen. Darin sehe ich die Zukunft von Schule. Diese Durchmischung von Lernen aus dem Lebenspraktischen, Lernen am Anderen, das sich dann ins Kognitive übertragen lässt. Ich denke, die Mathematik und die Sprache bleiben uns als Grundgüter der Menschheit erhalten, aber wir werden sie uns anders aneignen müssen. Dazu ist das ›Kleine Klassenzimmer‹ eine Keimzelle. Es geht darum, das künstlerische Tun anzuknüpfen an das, was schulisch verlangt wird. Dass die Kinder befreit und gelöst werden, um sich wieder den kognitiven Anforderungen stellen zu können.

WH | Wie reagieren die Eltern auf das »Kleine Klassenzimmer«?

CH | Ich bin bei vielen Elterngesprächen als Vertreterin unseres Förderkreises dabei. Unser Projekt musste natürlich erst ein paar Jahre lang Fuß fassen. Es brauchte Zeit, bis die Eltern ihre Skepsis ablegten. Die Rückmeldungen sind positiv, weil die Kinder gerne hierher kommen. So ist es eher eine Herausforderung, die Kinder wieder in ihre Klasse zurückzubekommen. Die Eltern erkennen, dass das hier ein Wärmeort der Schule ist und dass es den Kindern gut tut, ihn gelegentlich aufsuchen zu können.

Zum Autor: Wolfgang Held leitet die Kommunikation am Goetheanum in Dornach/Schweiz