Schon im Mutterleib spürt der Fötus die Grenzen seines eigenen Leibes durch den Tastsinn. Und er nimmt auch schon Eindrücke durch den Geschmackssinn wahr und reagiert durch verstärktes oder vermindertes Saug- und Schluckverhalten auf süße und bittere Substanzen. Ebenso kann ein Mensch vor der Geburt schon riechen und wenige Stunden nach der Geburt bestimmte Gerüche wiedererkennen.
Besonders prägend wirken aber die Eindrücke des Hörsinns. Der französische HNO-Arzt Alfred Tomatis ist sogar der Überzeugung, dass ein Kind im Mutterleib sein ausgebildetes Hörorgan benutzt, um willentlich zu horchen. Ein solches Horchen ist darauf ausgerichtet, die Kommunikation mit allem aufzunehmen, was es umgibt. Da sei vor allem das »Lebensgeräusch«, das »die Gesamtheit aller Zellen mit Leben erfüllt«. Der ungeborene Mensch nehme eine Horchhaltung ein, die für die Wahrnehmung dieses Klanges besonders geeignet sei. Dann die Stimme der Mutter, die den ganzen Leib des Ungeborenen umgibt: »Die Stimme wird jenseits der Sprache wahrgenommen, genauer: ohne ihren semantischen Inhalt, so dass nur die Klangfarbe bleibt, geprägt vom unverwechselbaren Sprachrhythmus der Mutter. Diesen Rhythmus erkennt das Kind nach der Geburt wieder, findet ihn unter allen anderen heraus und sucht ihn sein Leben lang.«
Die ersten Empfindungen unseres Lebens prägen die gesamte spätere Entwicklung. Lange bevor das kleine Kind selbst zu sprechen beginnt, erfasst es die Sprache anderer Menschen mit den Bewegungen des eigenen Leibes. »Ganz Sinnesorgan« sei das kleine Kind, so Rudolf Steiner. Und das drückt sich vor allem in seiner Nachahmung aus. Es lernt durch die Vielfalt seiner Sinneseindrücke, durch das willentliche Erkunden des eigenen Leibes und der nahen Umgebung. Aber das Nachahmen der Tätigkeit anderer Menschen ist eine Aktivität, die in dieser Form nur am Anfang des Lebens stattfindet – die letzten Nachklänge davon finden wir in den ersten Schuljahren.
Es sind die feinen Nuancen des Verhaltens Erwachsener, von denen das kleine Kind innerlich so ergriffen wird, dass es ihre innere Haltung, ihre Sprache, Gedanken und Gefühle als Impulse des eigenen Handelns erfährt. Erforscht wurde vor allem die Nachahmung der visuellen Eindrücke. Bei der Beobachtung der Tätigkeit anderer Menschen werden im Gehirn des Beobachters die gleichen Nervenzellen aktiv, wie wenn er selbst diese Tätigkeit ausführen würde. Dieser Zusammenhang verbindet den Säugling mit seinen Bezugspersonen ebenso wie ein frischverliebtes Paar: »Tatsächlich passiert aus neurobiologischer Sicht in beiden Fällen etwas sehr Ähnliches: ein wechselseitiges Aufnehmen und spiegelndes Zurückgeben von Signalen, ein Abtasten und Erfühlen dessen, was den anderen gerade, im wahrsten Sinne des Wortes, bewegt, begleitet vom Versuch, selbst Signale auszusenden und zu schauen, inwieweit sie vom Gegenüber zurückgespiegelt, das heißt erwidert werden«, so der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer.
Das Phänomen, das erst in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt wurde, wird missverständlich als »Spiegelung« bezeichnet, obwohl ein Spiegel sich bekanntlich durch das Erzeugen von Bildern nicht verändert, während die neuronale Aktivität von Menschen die Struktur des Gehirns nachhaltig prägt. Umstritten ist der Ausdruck auch, weil das System von »Spiegelneuronen« heute als Grundlage der menschlichen Fähigkeit zur Empathie gilt. Entdeckt wurde es aber an Makakenaffen, und bei diesen Tieren haben die entsprechenden Vorgänge nichts mit Empathie oder Imitation zu tun, wie der Marburger Hirnforscher Gerhard Roth zurecht zu Bedenken gibt.
Beim kleinen Kind entwickelt sich die Fähigkeit zur Empathie durch die Bindung an seine Bezugspersonen ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres – in einer Zeit also, an die sich niemand erinnern kann. Dass wesentliche, uns nachhaltig prägende Wahrnehmungen unbewusst oder vorbewusst bleiben, gilt aber für die gesamte Lebenszeit. »Unbewusst« ist alles, so Roth, »was in unserem Körper und allen Teilen des Gehirns außerhalb der assoziativen Großhirnrinde verarbeitet wird und keine Erregungen dorthin sendet«. Wenn die Funktion unserer Sinnesorgane (der Netzhaut im Auge oder der Knochen im Mittelohr) oder der inneren Organe (Niere oder Leber) beeinträchtigt ist, wird unser Wohlbefinden gestört – es ist der Lebenssinn, der uns ein allgemeines Unbehagen oder Schmerzen spüren lässt. Bewusst wahrnehmen können wir die Tätigkeit dieser Organe nicht. Anders ist es mit Gedächtnisinhalten, die wir vergessen haben, die nicht abgerufen werden oder schwer zugänglich sind. Sie gehören zu den vorbewussten Anteilen des expliziten oder deklarativen Gedächtnisses, das unser gesamtes Wissen umfasst. Das implizite oder prozedurale Gedächtnis bezieht sich dagegen auf die Bewegungs- und Handlungsabläufe, die wir beherrschen, ohne dass wir sie im Einzelnen beschreiben könnten – etwa beim Laufen oder Fahrradfahren. Die verschiedenen Sinne lassen sich danach unterscheiden, in welchem Umfang sie uns eher bewusste Kenntnisse über die Welt, vorbewusste Erfahrungen von Handlungsfolgen oder eine unbewusste allgemeine Empfindung unserer Leiblichkeit vermitteln. Beim kleinen Kind vor dem dritten Lebensjahr überwiegen zweifellos die unbewussten, aber gleichwohl prägenden Eindrücke. Erst im Laufe der Biographie vergrößert sich der Anteil der Empfindungen, durch die wir mehr und mehr den Gegensatz von Subjekt und Objekt der Wahrnehmungen erleben.
Rudolf Steiner formuliert daher in seiner Allgemeinen Menschenkunde: »Bei der Empfindung würden wir finden (…), dass sie auch ein Werden im Leben durchmacht, dass sie beim Kinde mehr willensartigen Charakter hat, beim Greise mehr verstandesmäßig intellektuellen Charakter«.
Literatur: Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, München 2006 | Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit, Stuttgart 2011 | Alfred Tomatis: Der Klang des Lebens, Hamburg 1990 | Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde, 7. Vortrag, GA 293, Dornach 1992