Waldorf im Digitalisierungsschub

Erziehungskunst | Die Corona-Pandemie und die Schulschließungen haben einen enormen Digitalisierungsschub ausgelöst. Wie ist diese Entwicklung einzuschätzen?

Edwin Hübner | Wir werden in Zukunft aufgrund der derzeitigen Erfahrungen sehr viel realistischer über den Einsatz von Informationstechnologien im Unterricht reden können. Deutlich ist, dass sich Kinder und Jugendliche gerade an längere Online-Zeiten gewöhnen und es ist zu befürchten, dass sich diese in einer »Nach-Corona-Zeit« bei vielen nicht wesentlich verringern werden. Die durch lange Bildschirmzeiten hervorgerufenen Probleme werden sich in Zukunft sicher noch verstärken. Sorge bereitet mir auch, dass eine Reihe von Schülern von ihren Lehrern während des Lockdowns kaum noch erreicht wird. Es wird in der »Nach-Corona-Zeit« sehr viel darauf ankommen, dass man Wege findet, wie man diese Kinder und Jugendlichen wieder in die Klasse integriert. Überhaupt wird man in den Schulen darüber nachdenken müssen, wie man die durch den Onlineunterricht eingetretenen einseitigen Entwicklungen wieder ausgleichen kann.

EK | Zur Zeit machen viele Waldorflehrer aus der Not eine Tugend und bieten digitale Unterrichtsformate an. Was ist dabei zu beachten?

EH | Das Anliegen der Waldorfpädagogik ist es, die Kinder zu eigenen Tätigkeiten und zur Kreativität anzuregen. »Online-Tools« verführen dazu, dass man tendenziell bloß Stoff vermittelt und die Kinder eher an dem haften bleiben, was am Bildschirm geboten wird. Es muss eine andere Methodik entwickelt werden, die den Bildschirm nutzt, um die Schüler zu selbstständigen Tätigkeiten anzuregen, die sie anschließend ohne Bildschirm und Computer ausführen können. Dazu haben viele Lehrer schöne Ideen entwickelt.

Außerordentlich wichtig ist es, dass die Lehrkräfte ihre Beziehung zu den Schülern und Klassen möglichst intensiv pflegen, sowohl äußerlich mithilfe analoger und digitaler Mittel, als auch innerlich. Auch hier haben viele Lehrer in den vergangenen Monaten Initiative entwickelt und viel Energie aufgewendet.

Eine andere Gefahr ist, dass der Tag für die Kinder seine Struktur verliert. Deshalb ist es wichtig, dass man durch einen rhythmisch gestalteten Online-Stundenplan den Kindern zeitliche Zäsuren gibt, die es ihnen erleichtern, den eigenen Tagesablauf sinnvoll zu gestalten. Den normalen Präsenz-Stundenplan einfach ins Virtuelle zu übertragen, ist aber keine sinnvolle pädagogische Lösung. Onlineunterricht braucht einen anderen Stundenplan, der vor allem den durch das Sitzen vor dem Bildschirm eintretenden Ermüdungen Rechnung trägt.

Die Versuchung ist da, sich gehen zu lassen. Kinder, Jugendliche, Studenten, manchmal auch Lehrkräfte stehen kurz vor acht Uhr auf und sitzen, überspitzt formuliert, noch im Schlafanzug vor dem Bildschirm. Man räkelt sich bequem auf dem Sessel oder isst einen Joghurt oder ein Müsli nebenher. Hier vermischen sich privater und öffentlicher Raum. Man muss daher darauf achten, den öffentlichen Raum des Unterrichtes und die eigene private Situation sehr sorgfältig zu trennen. Die Lehrkräfte müssen hier besonders streng darauf achten, dass sie sich so verhalten und auch innerlich so vorbereiten, wie es einem öffentlichen Raum angemessen ist – und dass sie dies vor allem auch von den Kindern und Jugendlichen verlangen.

Unser Team hat in einem Papier, das auf der Homepage der Freien Hochschule Stuttgart zu finden ist, dazu weitere grundsätzliche Gedanken zusammengetragen. (https://bit.ly/3qlO1Ne)

EK | Inwiefern könnte das von ihnen entwickelte medienpädagogische Konzept für Waldorfschulen für Handlungssicherheit sorgen?

EH | Zuerst einmal muss man deutlich zwischen Pädagogik unter Zuhilfenahme von digitalen Medien (Mediendidaktik) und Medienpädagogik unterscheiden. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Medienpädagogik zeigt, wie man sinnvoll mit den verschiedenen Medien umgeht, welche Chancen sie bergen und was sie aber auch nicht ermöglichen. Medienpädagogik fragt in erster Linie, wie der Mensch sich zu bilden hat, damit er die Funktionsweise der Medien versteht, ihre Inhalte kreativ-künstlerisch gestalten kann, insgesamt mündig mit ihnen umzugehen vermag. Mediendidaktik, also Pädagogik mit Medien, setzt Medien ein, um einen bestimmten Lerngegenstand zu vermitteln, beispielsweise Mathematik, Deutsch usw. Da ist die Fragestellung umgekehrt: Wie können Medien eingesetzt werden, damit der Mensch etwas gut verstehen kann? Derzeit ist durch die Schulschließungen die Frage nach der Mediendidaktik gestellt. Unser Konzept hat aber seinen Schwerpunkt auf die Medienpädagogik gelegt. Die Mediendidaktik spielt in unseren Überlegungen nur eine Nebenrolle. Deren Möglichkeiten sind für eine am Menschen orientierte Pädagogik zu beschränkt. Das kann man ja auch gegenwärtig in der Praxis erleben. Kinder wachsen in einem von digitalen Technologien beherrschten Alltag auf. Sie müssen daher diese Technologien prinzipiell verstehen lernen, nicht bloß geschickt mit ihnen umgehen können. Wenn man geschickt mit einem Onlinetool umgehen kann, ist man noch lange nicht medienmündig. Jugendliche müssen beispielsweise selbst einmal einen Film gemacht, ein Radiofeature hergestellt, vielleicht sogar unter Anleitung einen Wikipedia-Beitrag verfasst haben. Daran können sie erleben, wie die Dinge zustande kommen, mit denen sie im Alltag dauernd zu tun haben. Sie müssen wissen, wie das Internet prinzipiell funktioniert, wie eine Suchmaschine grundsätzlich arbeitet. Jeder Oberstufenschüler sollte einmal eine Programmiersprache kennengelernt haben und auch die Grundidee der künstlichen neuronalen Netze verstanden haben. Die Waldorfschulen stehen derzeit vor der Aufgabe, einen Grundgedanken Rudolf Steiners zu aktualisieren, der 1919 forderte, dass die Jugendlichen die prinzipiellen Funktionsweisen der Technologien ihres Alltags verstanden haben sollen, wenn sie die Schule verlassen. Da besteht vielfach Nachholbedarf.

Wie alle Technologien haben auch Informationstechnologien schädigende Nebenwirkungen. Pädagogik muss sich daher fragen, wie sie sich zu verändern hat, damit sie einen gesundenden Ausgleich bilden kann. Auf diese grundsätzliche Frage, die für jeden Unterricht gilt, aufmerksam zu machen, ist ein weiteres Anliegen unseres Konzeptes.

EK | Nehmen wir einmal an, dass wieder normale Verhältnisse herrschen. Wie bekommt man die negativen Entwicklungen in Elternhaus und Schule wieder in den Griff?

EH | Nur durch eine strenge Selbstdisziplin und den Aufbau von ausgleichenden Gewohnheiten. Darauf muss man auch schon jetzt sehr achten, nicht erst wenn wieder normale Verhältnisse herrschen. Als Familie oder Lebensgemeinschaft kann man gemeinsam Gerätezeiten vereinbaren und auf eine strenge Zeitbegrenzung oder onlinefreie Zeiten am Tag achten. Wichtig ist, dass man wenigstens einmal am Tag eine gemeinsame Mahlzeit einnimmt, während der man sich über die Erlebnisse, Freuden und Kümmernisse des Tages austauscht – und dabei sind alle Handys, Smartphones und sonstige Geräte ausgeschaltet.

Eltern und Erzieher sind Vorbilder: Sie geben sich selbst die Regeln und leben den Kindern vor, wie man als Erwachsener bewusst mit Informationstechnologien umgeht. Auch sie brauchen für die Erhaltung ihrer Gesundheit bildschirmfreie Zeiten. Dafür eignet sich in der Regel das Wochenende besonders gut.

Mit den Kindern und vor allem Jugendlichen sollte man die Bildschirmzeiten gemeinsam festlegen. Bildschirme haben, vor allem nachts, im Kinderzimmer nichts verloren. Ein ausreichender Schlaf ist notwendig für die Gesundheit des Menschen, vor allem auch für die Stärkung seiner Abwehrkräfte.

Gerade wenn eine Zeitsituation von uns verlangt, viel vor Bildschirmen zu sitzen, ist es besonders wesentlich, dass man so viel wie möglich reale Erlebnisse, wenn es irgend geht auch Naturerlebnisse, aufsucht. Das hat nichts mit Romantik zu tun, sondern mit der Erhaltung der leiblichen und seelischen Gesundheit.

Für die Schule ist die Aufgabe, wie sie den Fernunterricht, den sie sozusagen als Treibholz nutzte, um über Wasser zu bleiben, wieder loslassen kann. Der Lockdown und der Distanzunterricht haben die Kinder verändert, viele Psychologen sprechen von gravierenden psychischen Problemen. Da kommt auf die Pädagogen eine nächste Herausforderung zu. Der Präsenzunterricht wird dadurch seine Schwerpunkte mehr oder weniger verändern müssen.

EK | Welche positiven Lehren können aus diesen Erfahrungen mitgenommen werden?

EH | Vielen Menschen ist bewusst geworden, dass die in den vergangenen Jahrzehnten verbreitete Propaganda für Onlineunterricht übertrieben war. Der Onlineunterricht hat seinen Praxistest nicht bestanden. Für eine Notsituation ist er ein Behelf, aber im Alltag hat er keine große Zukunft. An einzelnen Stellen können in der Zukunft Onlinetools sinnvoll eingesetzt werden, aber niemals als Ersatz für die komplette reale Schulsituation. Die Grenzen des Onlineunterrichts sind allen Beteiligten sehr deutlich geworden. Das sehe ich sehr positiv. In Zukunft wird man die durchaus vorhandenen sinnvollen Möglichkeiten von Onlinetools nüchterner einschätzen. Diese kann man nicht in Abrede stellen. Es gibt Dinge, die man eben nur mithilfe von Onlinetools machen kann. Eine Lehrerin hat beispielsweise während des Lockdowns mit ihrer Klasse gemeinsam ein Schülerzeitungsprojekt begonnen. Recht bald kam es zu einer Zusammenarbeit mit einer anderen Klasse in einer weit entfernten Stadt, sodass man das Projekt gemeinsam weiterführte (siehe Folgebeitrag). So etwas kann man auch in Zukunft beibehalten: schulübergreifende Projekte, die ohne technische Unterstützung einfach nicht möglich wären. Informationstechnologien eröffnen also durchaus neue pädagogische Möglichkeiten, über die man auch an Waldorfschulen nachdenken kann.

Der wichtigste Aspekt allerdings ist, dass den Menschen deutlich wird, wie wichtig persönliche Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind. Der Wert der direkten menschlichen Begegnung ist enorm bewusst geworden, sowohl bei vielen Schülern, als auch bei den Eltern und Lehrkräften. Diese Erkenntnis sollten wir wachhalten und dankbar für jede direkte menschliche Begegnung sein, die uns in Zukunft möglich ist.