Waldorf in Vietnam. Zur Entkolonialisierung des waldörflichen Kulturguts

Joachim Maidt

Es ist fast 50 Jahre her, dass ich mit den »fortschrittlichen« Genossen unserer Oberstufe zum Amerikahaus der Stadt gezogen bin, um dort gegen den imperialistischen Krieg zu demonstrieren, den unsere »amerikanischen Freunde« gegen das vietnamesische Volk führten. Der Krieg ging trotz aller Proteste weiter, und es sollte noch Jahre dauern, bis die Vietcong die hoch gerüstete Armee der »Imperialisten« in Dschungelkämpfen zermürbt und besiegt hatten.

Damit ist die Kolonialgeschichte aber keineswegs zu einem Ende gekommen. Denn der Sieg, den Eltern und Großeltern errungen haben, gilt der heutigen Generation nichts mehr. Sie hat den »American Way of Life« voll auf dem Schirm, und die Alten verstehen die Welt nicht mehr.

Aus der Geschichte ist bekannt, dass Vietnam fast 1.000 Jahre chinesisch dominiert war, bevor die Franzosen als Kolonialherren auftraten und dann von den Amerikanern abgelöst wurden. Rein äußerlich ist in der Metropole Saigon vom französischen Baustil nur noch sehr wenig zu sehen, während viel von chinesischer Lebensart unbewusst tradiert wird.

Und wenngleich Ho-Chi-Minh nur mit Hilfe der »kommunistischen Brüder« aus dem Norden siegen konnte, werden die modernen Chinesen heute – wie man mir sagte – eher als unangenehme Nachbarn empfunden.

Das Schicksal ließ mich nun – ganz anders, als ich es mir damals erträumt hätte – mit diesem Land in Verbindung treten. Nachdem ich mich sieben Jahre lang in Lehrerfortbildungskursen auf den Philippinen engagiert hatte, kam auch für Vietnam eine Anfrage, so dass ich in Saigon (Ho-Chi-Minh-City) zunächst ein vierzehntägiges Modul der Lehrerausbildung geleitet und dann die dortige Schule noch einmal für zwei Wochen mit Hospitationen betreut habe.

Während es für den aus westlichen Ländern stammenden Dozenten zunächst wenig Unterschied zu machen scheint, wo in Asien man aus seinem Erfahrungsschatz als Klassen- und Englischlehrer Hilfe anbietet, ist es doch von großer Bedeutung, dass auf den Philippinen an den meisten Erziehungsstätten wie auch an den Waldorfschulen von der ersten Klasse an Englisch gesprochen wird, während die Waldorf-Kinder in Vietnam in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. In der mittlerweile auf vier Klassen angewachsenen Schule in Saigon kommen Chinesisch und Englisch schon in der ersten Klasse hinzu und werden in gewohnt spielerischer Weise als Fremdsprachen gelehrt.

Landeseigenes Lehrmaterial nötig

Für mich war es deshalb von vornherein klar, dass mein Material auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten Vietnams zugeschnitten werden müsste. Denn es ist an der Zeit, auch in der Waldorfbewegung eine Art Entkolonialisierung voranzutreiben. Beim Export unseres pädagogischen Impulses sollte es auch darum gehen, die Eigenheiten der fremden Kulturen zu achten und einzubeziehen, ohne die aus der Anthroposophie entwickelten Grundlagen der Erziehung zu vernachlässigen.

So ermunterte ich die Lehrer der Waldorfschule in Ho-Chi-Minh-City, mein »neutrales« englisches Rohmaterial schon vor Seminarbeginn zumindest in Teilen zu übersetzen und dabei vor allem die Empfindungen, die an die Kinder herangetragen werden sollen, adäquat durch die spezifischen Möglichkeiten der Landessprache zu vermitteln und beispielsweise die westlichen Melodien, wenn man sie schon verwenden will, den musikalischen Hörgewohnheiten anzugleichen. Denn im Vietnamesischen ist auch das klang­liche Hinauf- oder Hinabführen einer betonten Silbe bedeutungsunterscheidend, so dass eine abfallende Tonfolge in der Melodie bei manchen Silben eine Änderung des Wortsinns bewirken kann. Aus diesem Grund machten wir gern Gruppenarbeit, wo die angehenden Waldorferzieher lernten, ihr Lehrmaterial selbst anzufertigen.

Übergestülpte Pädagogik ist fragwürdig

Wenn Anthroposophie sich in der Welt als neue Wissenschaft, Kunst und spirituelle Praxis ausformen soll, dann wird sie beispielsweise auf dem Gebiet der Pädagogik in vielen Weltgegenden bezüglich der jeweiligen Kultur sehr unterschiedliche Charakteristika ausbilden müssen. Das ist aber nicht immer der Fall. So ist es für Bildungsreisende aus unseren Kreisen zwar stets eine besondere Freude, wenn sie etwa in asiatischen Ländern eine Waldorfeinrichtung besuchen und sich im Angesicht der bekannten Versatzstückchen unserer Pädagogik (Elfen, Zwerge, Raphael, Seidenschal und Aquarell) in einer heimeligen Anmutung wiegen können. Doch solche Übereinstimmung im Äußeren ist nicht immer ein Zeichen internationaler Qualitätssicherung.

Wenn auf einem Tafelbild der stilisierte Jahreszeitenbaum zu sehen ist, wo Blüten, üppiges Grün und Früchte, herbstliches Laub und schließlich kahle Zweige den Jahreslauf für diese Kinder veranschaulichen, obgleich es die im Unterricht besprochenen Jahreszeiten dort gar nicht gibt, so ergibt das wenig Sinn.

Das Fremde in seinen Eigenheiten ist gefragt

Als Dozent aus der westlichen Welt ist man zunächst sehr beeindruckt von der ehrfürchtigen Haltung, mit der das waldörfliche Wissen vertrauensvoll und völlig unkritisch aufgenommen und imitiert wird; und die Frage, ob vielleicht gewisse Überarbeitungen nötig wären, stellt man allenfalls nach der dritten Reise.

Somit ist es gar nicht verwunderlich, dass ich in Saigon während der Hospitation im englischen Fremdsprachenunterricht den mir geläufigen, typisch britischen silly song mit dem Text »Head and shoulders, knees, and toes …« wieder hören durfte. Weniger schön war es allerdings, dass der Klassenlehrer dieselbe Melodie mit vietnamesischem Text bereits nutzte, um die Kinder mit Bewegungen und Gesten in der Körperorientierung voranzubringen.

Und leider trällerte dann auch noch die Chinesischlehrerin eben diese Melodie, um die Vokabeln für die Körperteile einzuüben! Das mag für die Kinder vielleicht einen gewissen Wiedererkennungswert haben, doch die typisch europäische Tonfolge ist keineswegs dazu angetan, den Schülern im Chinesischen das Traditionelle und Spezifische der Kultur und nicht das modernistisch Gleichmacherische erlebbar zu machen. Und wenn dieselbe Chinesischlehrerin nun ein Tänzchen anleitet und sich dazu einer Musical-Melodie bedient, die da heißt »She is coming round the mountains …«, dann sagt das weniger über die Qualität der Lehrerin aus als über die einseitige Art ihrer Ausbildung. Denn sofern unsere Lehrplanrichtlinien für den Fremdsprachenunterricht immer noch Gültigkeit haben, ist der ideale Lehrer ein »native speaker« – was für diese Chinesischlehrerin zutrifft – der gerade das Fremde des Landes mit möglichst vielen Facetten im Klassenzimmer repräsentiert und erlebbar macht. Leider verführt die englische Sprache mit ihren Vorteilen für die internationale Verständigung oft dazu, dass die Fremdsprachendidaktik ausschließlich an Hand von Beispielen aus dem Englischunterricht vorgestellt und eingeübt wird. Die Klassen- oder Fachlehrer übernehmen sie dann ganz naiv, indem sie die Wörter übersetzen und ihren Erfordernissen anpassen. Den Lehrern ist daraus kein Vorwurf zu machen, denn sie haben zumeist gar nicht die Zeit, sich gründlich auf die Praxis vorzubereiten. Oft müssen ein oder zwei Kurse von acht bis vierzehn Tagen genügen, um im Unterricht eigenverantwortlich tätig zu sein.

Das kulturelle Erbe respektieren

Es geht hier nicht darum, die großen Erfolge der Waldorfpioniere zu schmälern, die in den entlegensten Teilen der Welt die Fahne für eine kindgerechte Erziehung aufgerichtet haben. Vielmehr ist es jetzt an der Zeit, in den Gegenden, wo unsere Pädagogik bereits gedeiht, eine Besinnung auf das jeweilige kulturelle Erbe anzuregen, um zu retten, was noch zu retten ist. Denn wo wir in Europa noch auf museal aufgearbeitete Kulturgüter zurückgreifen können, um sie für den Unterricht fruchtbar zu machen, geraten andernorts zugleich mit dem wirtschaftlichen Wachstum die traditionellen Werte auf allen Ebenen in Vergessenheit. Bei uns haben die Brüder Grimm beispielsweise einen Märchenschatz für die Entfaltung des Seelenlebens bewahrt; und in gleicher Weise sollten Waldorflehrer in Afrika oder Asien dazu angeregt werden, nicht nur auf dem Gebiet der Mythologie, sondern auch in musikalischen, tänzerischen oder kunsthandwerklichen Bereichen das Traditionelle des Ortes in den Unterricht zu holen.

Spätestens in der Heimatkunde-Epoche sollten nach unserem Lehrplan die Kinder in anderen Ländern ihre spezifischen Überlieferungen, aber zugleich den germanischen Stabreim kennen lernen. Für die deutschen, englischen oder skandinavischen Pädagogen im indogermanischen Sprachraum ist es leicht, diese kraftvolle Art des Reimens in neusprachlichen Übertragungen zu üben und dabei das Wachsein zu schulen. Den vietnamesischen Seminaristen habe ich allerdings geraten, sich für die Stabübungen keinesfalls an Übersetzungen zu wagen, sondern lieber wenige Originalzeilen aus dem Epos einzuüben. Die korrekte Aussprache ist ja in der Handreichung von Karl Friedrich Althoff zu studieren; und es ist zu hoffen, dass seine »Materialsammlung für den Epochenunterricht …« auch in andere Sprachen übersetzt wird.

In Vietnam war es für die Seminarteilnehmer und ganz besonders für mich ein beglückender Moment, als nach einigen Tagen die Erstklasslehrerin sich traute, mit uns eine Volksweise einzustudieren und daraus einen Reigentanz zu entwickeln. Von da an kam unsere Arbeit in ein ganz anderes Fahrwasser, weil die Studenten nun in Gruppen daran gingen, meine Beispiele für jahrgangsspezifische Bewegungsspiele oder Sprachübungen in Text und Melodie ihren in Kindertagen entwickelten Hörgewohnheiten und Empfindungen anzupassen.

Sowohl die Mentoren als auch die entsendenden Institutionen sollten darauf hinwirken, dass die kulturellen Eigenheiten eines Landes durch die Waldorfpädagogik mehr hervorgehoben, als zurückgedrängt werden. Und es ist auch an der Zeit, dass die Studenten, die das Privileg haben, über mehrere Semester an den Anthroposophischen Hochschulen in Europa, den USA oder Australien eine Ausbildung zu machen, dort schon darauf hinarbeiten, ihre landesspezifischen Traditionen für den eigenen Unterricht zu beleben. Dazu brauchen sie Ermutigung und Hilfe. Sofern dies schon geschieht, wäre ein Bericht in dieser Zeitschrift sicher von großem Interesse.

Zum Autor: Joachim Maidt war 25 Jahre als Klassenlehrer in Ulm und Würzburg tätig und gibt Einführungsseminare in die Waldorfpädagogik in Thailand, Vietnam und auf den Philippinen.