Taiwan ist eine Insel von der Größe Baden-Württembergs vor der südchinesischen Küste mit 27 Millionen Einwohnern. Trotz der wechselvollen Geschichte des Inselvolkes und einer nach wie vor ungeklärten politischen Situation kann man die Bewohner als fröhliche, freundliche und überraschend westlich orientierte Menschen erleben. Taichung, an der Westküste Taiwans gelegen, ist mit 2,7 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Im Herbst 2016 ist die kleine Schule Shan-Mei-Zhen aus dem Zentrum Taichungs auf ein eigenes Gelände außerhalb der Stadt gezogen.
In den Gebäuden eines ehemaligen staatlichen Kindergartens haben die vier Klassen eine großzügige Bleibe gefunden. Zum Kauf der Gebäude haben die Mittel nicht gereicht. Nun hoffen die Initiatoren, dass der langfristige Mietvertrag ihnen genügend Sicherheit bietet.
Aus dem vormals etwas düster wirkenden Kindergartengelände ist ein heimeliger Ort geworden. Helligkeit, Farbe, Wärme und viel Leben sind in die Räume und das Außengelände eingezogen. Eltern und Lehrer investierten viele Arbeitsstunden in die Gestaltung. Ihr neuestes Projekt ist die Einrichtung des Klassenraums für eine Kleinklasse, die im Sommer 2018 aufgenommen werden soll.
Wie bei vielen Initiativen im nicht-europäischen Ausland standen auch hier zahlreiche europäische Waldorflehrer mit Rat und Tat zur Seite. Das Besondere scheint jedoch, dass hier von Anfang an der Versuch unternommen wurde, die grundlegenden Gedanken der anthroposophischen Menschenkunde mit den alten Schätzen der chinesisch-taiwanischen Kultur zu verbinden. Nicht das Nachahmen des europäischen Vorbildes, sondern das Zueigenmachen und Übertragen in die eigene, in der Vergangenheit so schwer angegriffene und zerstörte Kultur steht im Vordergrund. In China galt bis ins 19. Jahrhundert hinein der Grundsatz, für eine gute Erziehung sei das Erlernen von vier Künsten nötig: Kalligrafie, chinesisches Schach, chinesische Malerei und ein traditionelles Instrument.
Alle vier Künste werden in der Shan-Mei-Zhen-Schule in der vierten und fünften Klasse von den Schülern erlernt und eifrig betrieben. Eigentlich würden noch die Sportarten Reiten und Bogenschießen dazugehören, was aber im Moment noch ein Zukunftstraum bleiben muss.
Alte Zeichen neu entdeckt
Am Beispiel der Kalligrafie wird deutlich, wie die Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsstand an diese Kunst herangeführt werden. Während sie sich in den ersten drei Schuljahren malerisch und behutsam mit dem Gebrauch des Pinsels und einfachen traditionellen Schriftzeichen vertraut machen, beginnt in der vierten Klasse und zunehmend in den weiteren Jahren der streng strukturierte Übungsweg, der dem Erlernen der Formensprache der Kalligrafie zugrunde liegt. Als wir selbst die Möglichkeit hatten, erste Schritte in dieser Kunst zu wagen, konnten wir erleben, wie stark Eigenbewegungssinn, Gleichgewichtssinn und die Auge-Hand-Kontrolle gefordert waren.
Der Gründungslehrer der Schule suchte von Beginn an nach Möglichkeiten, das Schreiben in einer Weise einzuführen, die sowohl dem menschenkundlichen Ansatz, als auch der chinesischen Kultur gerecht werden. Er begegnete einer Sprachforscherin, die herausgefunden hat, dass chinesische Kinder eine unmittelbare Beziehung zur Bedeutung der alten Schriftzeichen haben, die noch wesentlich mehr Bildgehalt aufweisen als die heute gebräuchlichen. Die kindliche und bildhafte Wahrnehmungsweise scheint einen direkten Zugang zu der Entstehung der alten Schriftzeichen zu haben – eine Fähigkeit, die jenseits des neunten Lebensjahres allmählich nachlässt. Der Lehrer griff diese Forschungsergebnisse auf, um mit den Schülern der ersten bis dritten Klasse – also noch vor dem sogenannten Rubikon – einen Zugang zum Schreiben zu finden. Indem er die natürlich-intuitiven Fähigkeiten der Kinder nutzt, lernen sie malerisch-nachahmend die alten Zeichen und entdecken dabei selbst deren Bedeutung.
Der waldorfspezifische Ansatz, bei dem die Buchstaben an eine Geschichte und damit an ein Bild angeschlossen werden, erübrigt sich dabei – jedes alte chinesische Schriftzeichen ist eine Bilderwelt für sich. Die vierte Klasse geht dann zur modernen chinesischen Schrift über, die wesentlich weniger bildhaft ist, die aber nun durch den vorangegangenen Unterricht auf einem verlässlichen Fundament steht.
Teezubereitung ist eine Kunst
Ein weiteres Element der taiwanischen Kultur ist die Teezeremonie, die zunehmend aus dem Alltagsleben verschwindet. Als Teilnehmer an einer solchen Zeremonie wird man von ihrem Zauber und ihrer Harmonie gleich eingenommen. Wer als Laie selbst probieren darf, anstelle der Meisterin den Tee zuzubereiten, kann bemerken, wie unendlich schwer es ist, das Ritual in solcher Vollendung durchzuführen. Die traditionellen Gefäße und ihre Bedeutung, die rituellen Handgriffe, die innere Ruhe und Eleganz in der Bewegung – all das ist für den Ungeübten eine große Herausforderung. Diese hohe Kunst dürfen die Schüler lernen und die Lehrer erleben dabei, wie selbst unruhige und sonst schwer zu führende Kinder unter der Anleitung der Meisterin ihre Mitte finden und zur Ruhe kommen.
Fundierte Ausbildung nötig
Das Ringen um das Verständnis der Waldorfpädagogik ist überall zu spüren, die Integration des Gelernten in die eigene Kultur höchstes Ziel. Dieser Impuls führte 2014 zur Gründung des ersten chinesisch-sprachigen Waldorferzieherseminars in Fuzhou (China) durch Kollegen der Shan-Mei-Zhen-Schule und der dazugehörigen drei Kindergärten. Der zweite dreijährige Kurs, mit jeweils zwei Unterrichtsblöcken pro Jahr, begann im Juli 2017 mit 350 Teilnehmern. Darunter finden sich inzwischen zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, die die intensive anthroposophische Grundlagenarbeit in ihrer eigenen Sprache und Mentalität zu schätzen wissen.
Da in China waldorfpädagogische Einrichtungen wie Pilze aus dem Boden schießen, ist zu hoffen, dass die dafür nötigen Lehrer und Erzieher hier eine fundierte und ihnen und den Kindern gemäße Ausbildung erhalten können.
Zu den Autorinnen: Beate Schram ist Lerntherapeutin, Margarete Westermeier Sonderpädagogin.