Ausgabe 11/23

Waldorf ohne Steiner?

Jost Schieren

Anthroposophie und die damit verbundenen Praxisfelder Waldorfpädagogik, Anthroposophische Medizin und biologisch-dynamische Landwirtschaft (Demeter) haben es in den überregionalen Medien nicht leicht. Scheinbar selbstverständlich werden mit ihnen Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörungstheorie, esoterische Schwurbelei, Querdenkertum, Rassismus und Antisemitismus in Verbindung gebracht. Was vor der Covid-Krise noch als harmlose Spinnerei galt, wird inzwischen als demokratiefeindlich und gefährlich eingestuft. Es gibt sogar Forderungen, dass homöopathische Medikamente nicht mehr von Krankenkassen bezahlt werden dürfen und Waldorfschulen von der staatlichen Förderung ausgeschlossen werden sollen.
Was die Waldorfpädagogik angeht, so stellt die Erziehungswissenschaft die Frage nach der anthroposophischen Doktrin und der esoterischen Verankerung schon lange. Der Mainzer Erziehungswissenschaftler und kritische Waldorfexperte Heiner Ullrich hat sich bereits 1986 mit diesem Thema befasst. In seiner Doktorarbeit kritisierte er die Waldorfpädagogik als eine vor-aufklärerische «okkulte Weltanschauung». Ein Jahr zuvor hatte der Tübinger Erziehungswissenschaftler Klaus Prange den Waldorfschulen eine indoktrinierende «Erziehung zur Anthroposophie» vorgeworfen.
Die damals akademisch geäußerte Kritik wird nun gesellschaftlich wirksam. Die Waldorfwelt, die nach außen fröhlich bunt und kinderfreundlich auftritt, steht unter Sektenverdacht. Sie gilt als anti-wissenschaftlich und esoterisch verschwurbelt. Kaum eine Fernsehdokumentation oder ein Presseartikel, die in den letzten zwei Jahren nicht in das gleiche Horn geblasen haben. Zuletzt war es die Studie des Basler Forschers Oliver Nachtwey, die in der Öffentlichkeit als wissenschaftlicher Beleg für die These gehandelt wird, dass Anthroposoph:innen überproportional anfällig für Querdenkerpositionen sind. Auch wenn diese Studie nach Eigenaussagen keinen repräsentativen Anspruch erhebt.
Die Corona-Krise hat zu Tage gefördert, was schon lange geahnt wurde: Die Anthroposophie und noch viel mehr die Anthroposoph:innen unterlaufen den gesellschaftlich-wissenschaftlichen Konsens. Sie sind das Problem der Waldorfpädagogik. Aber ist das wirklich so?

Anthroposophie ist nicht deckungsgleich mit Waldorfpädagogik

Viele Waldorfkritiker:innen gehen undifferenziert davon aus, dass die gesamte Anthroposophie Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik gehört. Oft wählen sie ein beliebiges, abstrus anmutendes Steiner-Zitat, um damit zu belegen, wie krude diese Pädagogik sei. Dabei wird vollständig außer Acht gelassen, dass viele Werkaspekte der Anthroposophie gar keinen wesentlichen Eingang in die Waldorfpädagogik gefunden haben. Als Steiner 1919 die erste Waldorfschule in Stuttgart gründete, war er sich durchaus darüber bewusst, dass hier kritische Fragen bezüglich der Ideologie aufkommen könnten. Er hat eindringlich davor gewarnt, dass sie keine «Anthroposophenschule» sein dürfe: Die Anthroposophie habe inhaltlich nichts in der Waldorfschule zu suchen, sondern dort einen allein methodischen Wert.[1]
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, was Steiner mit Bezug auf die Waldorfpädagogik alles nicht gesagt hat. Zentrale Bestandteile der Anthroposophie wie Kosmologie, Christologie und Engellehre spielen in den vielen Vorträgen, die Steiner zur Waldorfpädagogik gehalten hat, keine Rolle. Die meisten Kritiker:innen ­ und sicherlich auch viele „übereifrige“ Anthroposoph:innen ­ sind ideologischer aufgestellt, als es die Waldorfpädagogik je gewesen ist.

Waldorf goes Wissenschaft

Die Kritik, die gegen die Waldorfpädagogik vorgebracht wird, hat meist tendenziösen Charakter. Das zeigt sich vornehmlich an Einzelfällen, die als Beleg herangezogen werden: hier ein Elementarwesen- oder Engelsbezug, dort ein rechter oder  prügelnder Waldorflehrer. So erklärungsbedürftig die einen und so problematisch die anderen Fälle auch sind, sie entsprechen nicht dem Gesamtbild einer auch international überaus erfolgreichen und beliebten Pädagogik, die längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Es wird zudem übersehen, dass sich seit nunmehr über zwanzig Jahren in der Waldorfschule eine grundlegende Wende vollzogen hat.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war die Waldorfpädagogik vor allem eine Praxisbewegung, deren Theoriebezug in der weitgehend unkritischen Übernahme von Steiners Thesen bestand. Doch spätestens mit dem 21. Jahrhundert hat ein forschungsbasierter wissenschaftlicher Diskurs eingesetzt. Zahlreiche empirische Studien zur realen Schulwirklichkeit konnten unter anderem widerlegen, dass an den Waldorfschulen eine Indoktrination stattfindet. Auch gibt es heute deutlich mehr wissenschaftliche Studien und Doktorarbeiten, die sich kritisch-hermeneutisch mit den Theorien hinter der Waldorfpädagogik auseinandersetzen.

Waldorftypische Konzepte wie die Kulturstufentheorie, Jahrsiebte- und Temperamentenlehre stehen – auch waldorfintern – auf dem Prüfstand. Zudem hat die bis dahin eher informell organisierte Waldorflehrer:innenbildung einen radikalen Wandel erfahren. Mit dem ersten, im üblichen Peer-Review-Verfahren akkreditierten akademischen Masterstudiengang an der Alanus Hochschule hat 2007 deutschlandweit eine Akademisierung der Waldorfausbildung eingesetzt. 2010 hat der Wissenschaftsrat der Alanus Hochschule sogar das Promotionsrecht im Fachbereich Bildungswissenschaft verliehen – nach allen Regeln des üblichen Wissenschaftsbetriebs. Dieses wurde 2020 nochmals bestätigt. Im Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik werden einschlägige Doktorarbeiten auf den Weg gebracht. Dabei erstellen die Doktorand:innen ihre Dissertation in einem Netzwerk von erziehungswissenschaftlichen Lehrstühlen anderer Universitäten, die miteinander kooperieren.
Offener Diskurs, methodische Stringenz und wissenschaftliche Transparenz haben in den vergangenen zwanzig Jahren eine neue waldorfpädagogische Qualität hervorgebracht. Der Dachverband Bund der Freien Waldorfschulen stellt sich den kritischen Fragen und Problemen der Schulen. Es gibt die Initiative «Waldorfschulen für eine offene Gesellschaft - gegen rechts», eine klare Abgrenzung gegen Rassismus und Antisemitismus und es gibt ein verbindliches Verfahren für den Umgang mit Missbrauch und Gewalt an Schulen. Faire und sachgegründete Kritik ist hochwillkommen, weil sie überhaupt erst eine Qualitätsentwicklung ermöglicht.
In diesem Kontext muss auch die Internationalisierung der Waldorfpädagogik betrachtet werden. Waldorfschulen sind weltweit verbreitet. Es ist schon lange nicht mehr Deutschland, in dem der Anteil der Waldorfschulen im Verhältnis zur Bevölkerung am größten ist. An erster Stelle steht Holland, gefolgt von Norwegen und Israel. In Israel gibt es Waldorfschulen in jüdischen und auch ultra-orthodoxen Gemeinschaften, in arabisch-islamischen und christlichen Kontexten – manche Waldorfschulen werden auch von Arabern und Juden gemeinsam besucht. War es in den Anfängen eher so, dass ein vorwiegend deutsches Schulmodell in andere Länder verpflanzt wurde, so hat die Waldorfpädagogik heute in jedem Land eine eigene kulturelle Färbung angenommen. Ein systematisches Projekt in diesem Kontext lautet «De-Colonizing the Curriculum».

Inspirationsquelle Steiner

Wo bleibt da Rudolf Steiner? Ist er nicht eine Reliquie aus einer anderen Zeit? Haben seine spirituell-hellseherischen Schriften überhaupt noch eine Bedeutung für die aktuelle Waldorfpädagogik? Sicherlich, manche eher traditionell orientierten Anthroposoph:innen klammern sich in sinnsuchender Metaphysiksehnsucht an den schier unerschöpflichen Kosmos des Steiner‘schen Werkes. Dabei entgeht ihnen, wie auch vielen Kritiker:innen, der durchaus philosophisch moderne Kern von Steiners Ansatz. Der hält auch heute noch viele Inspirationen für eine produktive Pädagogik bereit.
Anthroposophie beruht auf einem Denkbegriff, der idealistisch geprägt ist. Im Vordergrund steht die Eigenaktivierung des Denkens und eine Urteilsbildung, die sich im Sinne Goethes auf Beobachtung stützt. Dies führt letztlich zu einer non-dualen, in Steiners Worten «monistischen» Wirklichkeitserfahrung ­ von Mensch und Welt. Anthroposophie ist kein naiver Geisterglaube, sondern eine moderne Bewusstseinsphilosophie, in deren Zentrum die Freiheitsentwicklung des Menschen steht. Das menschliche Individuum gilt dabei nicht als normativ, also auf eine grundsätzliche Norm festgelegt. Es ist vielmehr in der Lage, durch meditative Schulung tiefere Bewusstseins- und Wirklichkeitserfahrungen spirituell zu erschließen.
Dieser philosophische Kern des Steiner‘schen Werkes macht auch die Waldorfpädagogik bis heute aktuell und begründet zentrale Prinzipien ihrer praktischen Ausformung. Hierzu gehört etwa die unbedingte Anerkennung der Schüler:innen als Individualitäten oder die größtmögliche Förderung der individuellen Anlagen und Neigungen statt notenbasierter Selektion. Die Waldorfschule versteht sich als Erfahrungsraum sozialer Gemeinschaftsbildung und begreift Lernen nicht als bloße Wissensvermittlung. Ganz im Wagenschein’schen Sinne trägt Lernen dazu bei, Welt und Wirklichkeit zu begreifen und zwar auf Basis eigener Erfahrungen und Handlungen.
Diesem ganzheitlichen Menschenbild entspricht ein Lernansatz, der nicht allein kognitiv-intellektuelle Prozesse (Kopf), sondern auch ästhetisch-emotional-soziale (Herz) und praktisch-handwerkliche (Hand) Kompetenzen umfasst. Damit einher geht auch eine pädagogisch-praktische Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem. Dieses ist nicht allein philosophischer Natur, sondern im digitalen Zeitalter insbesondere auch psychisch-sozial belastet. Der letzte Aspekt wird immer bedeutsamer, da die Leib- und Wirklichkeitsentfremdung im Zuge der zunehmenden Digitalisierung bei Kindern und Jugendlichen zum Teil dramatische Züge trägt. In der bloß digitalen Welt werden Bewusstseinsprozesse nur einseitig ausgebildet. Dies führt zu einem Weltverlust des empfindenden und handelnden Menschen und ebenso zu einer Leibentfremdung mit immer mehr beobachtbaren Krankheiten. Die Waldorfpädagogik steuert dem entgegen, indem sie – durchaus in Übereinstimmung mit einer modernen Leibphänomenologie – Lernvorgänge immer an unmittelbare Erfahrungen anknüpft. Hier kommt auch der oft verspotteten Eurythmie («Namen Tanzen») eine besondere Rolle zu. Denn sie ist darauf angelegt, im Umgang mit Sprache und Musik einen leiblichen Ausdruck ästhetischer Erfahrungen zu ermöglichen.

Rudolf Steiner steht auch heute noch für eine moderne humanistische Pädagogik, die Lernen als individuelle Persönlichkeitsentwicklung begreift und fördert. Daher wird hier für eine Waldorfpädagogik mit Steiner plädiert, aber mit einem Rudolf Steiner, dessen Anthroposophie, wenn sie philosophisch gelesen wird, eine freiheitlich-spirituelle Bewusstseins- und monistische Wirklichkeitserfahrung bereithält.

 

 

 


[1] Vgl. Rudolf Steiner in einem Vortrag in Ilkey am 15. August 1923: «Dieses Allgemein-Menschliche im Unterrichts- und Erziehungswesen, das ich für die verschiedensten Unterrichtszweige charakterisieren musste, das muss sich im Waldorfschulprinzip besonders dadurch ausleben, dass diese Waldorfschule nach keiner Richtung hin eine Schule der religiösen oder philosophischen Überzeugung oder eine Schule einer bestimmten Weltanschauung ist. Und nach dieser Richtung war es ja natürlich notwendig, gerade für ein Schulwesen, das sich aus der Anthroposophie heraus entwickelt hat, darauf hinzuarbeiten, dass nun ja diese Waldorfschule [...] weit davon entfernt sei, etwa eine Anthroposophenschule zu werden oder eine anthroposophische Schule zu sein. Das darf sie ganz gewiss nicht sein. Man möchte sagen: jeden Tag aufs neue strebt man wieder danach, [...] nicht irgendwie durch den Übereifer eines Lehrers, oder durch die ehrliche Überzeugung, die ja selbstverständlich bei den Waldorfschullehrern für die Anthroposophie vorhanden ist [...] irgendwie in eine anthroposophische Einseitigkeit zu verfallen. Der Mensch, nicht der Mensch einer bestimmten Weltanschauung, muss in didaktisch-pädagogischer Beziehung einzig und allein für das Waldorfschul-Prinzip in Frage kommen.» (Rudolf Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. GA307, S.203)

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