»Du schaffst es!« Bundeskongress Selbstverwaltung in Flensburg

Mathias Maurer

Ohne persönlichen Einsatz würde nichts funktionieren: Die Mitwirkung der Eltern endet nicht am Schultor und die der Lehrer beschränkt sich nicht auf das Klassenzimmer. Sie engagieren sich im Vorstand, in der Schulführung, im Personalkreis, in den Beitragsgesprächen und in der pädagogischen Konferenz. Kein Direktor sagt, was zu tun ist und wo es lang geht. – Und dann fangen die Probleme an …

Der Bund der Freien Waldorfschulen, die Pädagogische Sektion am Goetheanum, der Verband für Heilpädagogik und die Vereinigung der Waldorfkindergärten luden vom 29. bis 30. September 2012 zum Kongress »Selbstverwaltung – Selbst verwalten – Selbst walten. Raum für zeitgemäße Waldorfpädagogik?« an die Flensburger Waldorfschule ein. Über 500 Menschen kamen, die Nachfrage war größer als gedacht. Über 30 Arbeitsgruppen widmeten sich den unterschiedlichsten Aspekten der Selbstverwaltung: über Schulführung, Eltern-Lehrer-Zusammenarbeit, Organisationsentwicklung bis hin zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, rechtlichen Fragen und Kommunikationsübungen. Ein Plenum mit Kurzreferaten weitete den Blick auf die brennenden Zeitfragen, die, so verschieden sie sind, nach neuen Antworten rufen. Die Probleme ähneln sich strukturell, denn sie zeigen, dass alte soziale Gewohnheiten – das Weitermachen wie bisher – weltweit und in allen gesellschaftlichen Bereichen in Sackgassen und Dauerkonflikte münden. Die drei Vorträge führten immer wieder auf die inneren Voraussetzungen der Selbstverwaltung zurück: Florian Osswald vom Goetheanum sprach von den menschenkundlichen Grundbedingungen einer selbstverwalteten Pädagogik, Valentin Wember von der Tübinger Waldorfschule vom »inneren Direktor«, den wir in jedem Kind zu entdecken haben, und Adriaan Bekman vom niederländischen IMO-Institut von den seelischen Fähigkeiten, die bei der Weiterentwicklung von Einrichtungen, besonders in Krisen, auszubilden sind. Schließlich zeigten die kabarettistischen Einlagen, welche wichtige Rolle der Humor im Gemeinschaftsleben spielt, wie er die Seele wieder zum Schwingen bringt und soziale Verhärtungen lockert.

In der Selbstverwaltung folgt die Form dem Leben

Gelingende Selbstverwaltung ist daran erkennbar, dass sie nicht als Belastung, sondern als Kraftquelle erlebt wird, als persönliches Übungsfeld in einem sich ständig in Bewegung befindlichen Prozess der Gemeinschaftsbildung. Das »Wir« muss immer wieder neu gefunden werden – auch wenn die papiernen Leitbilder noch so schön formuliert sind und hehre Ziele verheißen.

Konkretes Handeln, nicht Wunschvorstellung, zeigt an, wo wir als Gemeinschaft stehen. In der Selbstverwaltung muss die Form dem Leben, der Dynamik sozialer Prozesse folgen. Festgezurrte Strukturen dürfen nur als Momentaufnahme gelten, um nicht die Weiterentwicklung einer Organisation zu behindern. Selbstverwaltung wird – so verstanden – zu einem konstitutiven Element einer freien Schule, eines freien Bildungswesens schlechthin, insbesondere für eine Pädagogik, die sich eine »Erziehung zur Freiheit« auf die Fahnen geschrieben hat – die nicht nur für die Kinder, sondern auch für Lehrer und Eltern als Lerngemeinschaft in Anspruch genommen werden soll.

Keine Gemeinschaft ohne etwas, das sie übersteigt

Dass ein Individuum ohne die tragende Gemeinschaft nicht auskommt, ist eine Binsenweisheit. Auch dass es heute keine Gemeinschaft mehr geben kann, ohne den individuellen Beitrag eines jeden Mitgliedes dieser Gemeinschaft, gehört zum Standard moderner Organisationsentwicklung. Neu ist allerdings die systematische und methodische Umsetzung der Erkenntnis, dass keine Gemeinschaft in Zukunft existieren kann, ohne etwas, was sie übersteigt. Hier kommen höhere Gemeinschaftskräfte ins Spiel, die über uns hinausgehen. Manchmal – in Sternstunden – bekommen wir sie zu fassen, wenn wir merken, dass ein Gespräch mehr ermöglichte, als die Fähigkeiten der einzelnen Gesprächspartner. Das setzt neue soziale Wahrnehmungsfähigkeiten voraus, die im »selbstverwalteten« Schulalltag erübt werden können. Soziale Intuition geht über die Möglichkeiten einer verstandes- oder vorstellungsgesteuerten Strukturbildung und Organisationsentwicklung hinaus und knüpft zugleich direkt an die reale Verantwortungsbereitschaft, an die konkreten Handlungsmöglichkeiten jedes einzelnen Menschen an. Dadurch eröffnen sich überraschend neue Gestaltungsmöglichkeiten, die festgefahrene »Interessenlager« und »Selbstbehauptungen« überwinden. Erlebt man dies, lernt man Selbstverwaltung lieben. Florian Osswald brachte es ins Bild: Er übte mit seiner Klasse in einer Scheune über einen hohen, langen Dachbalken zu balancieren. Die Klasse stand unten und feuerte jeden an: »Du schaffst es!« – Jeder kam hinüber, selbst der Ängstlichste. Hätte einer gezweifelt, wäre er vielleicht abgestürzt.

Mut, Zuspruch und gegenseitige Anerkennung sind neue »Führungsqualitäten«, die der allgemeinen antisozialen Fliehkraft der Gegenwart standhalten. Es scheint, dass dieser Kongress nicht zufällig an Michaeli stattgefunden hat.