Eine Zirkusschule fürs Leben

Stephanie Schiller

Felix hält sich hoch über der Manege mit seinen Händen an zwei herabhängenden Tüchern fest, die Füße eingedreht in je ein Tuch, während er – wie die Mädchen neben ihm – in luftiger Höhe unter der Kuppel des Zeltes einen schwebenden Spagat versucht. »Kann ich noch nicht«, sagt er, mehr zu sich als zu den anderen. Doch er kann an die eigenen Grenzen gehen und darüber hinaus. Beim Zirkus Ubuntu lernen Kinder nicht nur, sich selbst einzuschätzen. »Jedes Trainingsjahr beginnt mit Muskelaufbau«, sagt der Artist Fido, der hier als Akrobatik-Lehrer arbeitet, »denn wer stark ist, minimiert sein Verletzungsrisiko.« Das gilt bestimmt nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seelen von Kindern.

Eigentlich ist es ein Wunder, dass es diesen Zirkus gibt. Seit 20 Jahren finden sich jeden Januar von neuem 50 Kinder und Jugendliche aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen und trainieren jedes Wochenende bis zum Schuljahresende. In den schleswig-holsteinischen Sommerferien gehen sie dann vier Wochen lang mit einem eigenen Programm auf Tournee – mit alten Zirkuswagen, die von Treckern gezogen werden. Dieses Jahr geben sie 44 Vorstellungen. Am 11. Juli ist in Horst Premiere. Da sich der Zirkus aus den Teilnahmebeiträgen und dem Verkauf der Eintrittskarten selber trägt, wird den Kindern schnell deutlich, dass hier Verlässlichkeit, Vertrauen und Verbindlichkeit zählen: Sie sind die Zirkusgemeinschaft, sie sind der »Circus Ubuntu«, das Dorf auf Rädern, das auf Tournee geht.

Ein Leuchtturm in Krisen

Da die Erfahrungen so gut, die Erlebnisfelder so vielfältig waren, wurde als ein Folgeprojekt des Sommerzirkus eine Zirkusschule für Kinder und Jugendliche aus Krisensituationen gegründet. Dort arbeiten Artisten und Pädagogen das ganze Jahr über mit den Kindern. Im Jahre 2003 erhielt der Verein »Soziale Projekte« die Betriebserlaubnis für das Jugendhilfeprojekt. Seitdem können 16 Zirkuskinder in Horst leben – jedes in seinem eigenen kleinen Zirkuswagen.

Wer vom Jugendamt nach Horst vermittelt wird, hatte zuvor meist Probleme in der Familie oder in der Schule. So unterschiedlich die Gründe sein mögen, eines ist den Jugendlichen oder Kindern gemeinsam: Sie haben den roten Faden ihrer eigenen Biographie verloren. In Deutschland sieht das Sozialgesetzbuch in solchen Fällen »Hilfen zur Erziehung« vor. Den Antrag auf Hilfe stellen meist die Eltern. Das Jugendamt sucht dann ein geeignetes Projekt für das Kind. Ziel ist es zu helfen, bevor etwas passiert. Bei »Ubuntu« setzt man daher auf ganz andere Lernkonzepte als in Regelschulen: Akrobatik, Jonglage, Clownerie, Einrad fahren, Schauspiel, Trecker reparieren, Kostüme nähen, Essen kochen, Bühnen und Requisiten bauen, im Garten Gemüse ziehen, Aufsätze schreiben, miteinander reden, lachen, streiten, sich an Regeln halten – im Zirkus für das Leben lernen. Weil der Zirkus »die Welt im Kleinen« ist, können dort alle Dinge im geschützten Rahmen neu gelernt und geübt werden.

So werden aus kleinen Menschen starke Menschen. Nach ein bis zwei Jahren verlassen dann einige Jugendliche die Einrichtung und machen Platz für andere, die Hilfe brauchen können. Eine erlebnisreiche und lehrreiche Zeit liegt nun hinter ihnen. Eine Zeit, die nicht vergessen wird. Einige starten in das Berufsleben, andere tauchen wieder in den normalen Schulalltag ein.

Unterstützt wird das Projekt ehrenamtlich von den Eltern der Kinder. In unzähligen Stunden reparieren sie die alten Schlafwagen und Trecker, sie nähen Kostüme, komponieren und üben Musik ein, sie erstellen Essenspläne und treiben biologische Lebensmittelspenden auf. Für dieses Engagement erhielt »Ubuntu« die Auszeichnung »Leuchtturmprojekt« in Schleswig-Holstein. Geht der Zirkus dann auf Tournee, bildet sich ein gut 400 Meter langer Korso aus Zelt- und Küchenwagen, Material- und Schlafwagen kleinen Lastern und Begleitfahrzeugen. Alle 60 Zirkuskinder und die mitfahrenden Betreuer und Eltern werden dann vier Wochen lang unterwegs sein mit »Estelles Traum«.

Zur Autorin: Stephanie Schiller ist freie Journalistin und Buchautorin in Hamburg, schreibt Bücher (»Heimatfront. Mein Leben mit einem Kriegsheimkehrer«) und Libretti (Jugendoper »Border«)

Tourneedaten unter: www.ubuntu.de