Individuelle Verantwortung in der Selbstverwaltung

Helmut Dietz

Selbstverwaltung ist grundlegend für das gesamte Geschehen an Waldorfschulen seit ihrer Begründung. Seit den 1970er Jahren aber wird sie zunehmend problematisiert. In einem gut besuchten Workshop der Pädagogischen Akademie am Hardenberg Institut auf dem ausgebuchten Selbstverwaltungskongress in Flensburg wurde eine Ursache diskutiert: alle scheinen wie selbstverständlich davon auszugehen, dass es prinzipiell nur zwei Formen von Führung und Zusammenarbeit gibt: hierarchische Machtausübung (durch Einzelne) oder demokratische Abstimmungen (in Gruppen). Zwischen diesen beiden althergebrachten Formen lavieren sich oftmals die Mitwirkenden an einer Waldorfschule durch. Sie bräuchten eigentlich eine ganz andere Art der Zusammenarbeit. Hier ist ein Paradigmenwechsel nötig. Der wurde zwar schon von Rudolf Steiner angelegt, ist aber bis heute nicht recht zur Geltung gekommen.

Zusammenarbeit beruht nicht auf direktorialer Weisung und nicht auf Mehrheitsentscheidungen in der Gruppe, sondern ist ein Zusammenwirken verantwortlich handelnder Individuen, bei dem geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit den Ton angeben Statt auf meinungsbasierte Abstimmungen hinzuarbeiten, begegnet man den Kollegen mit wachem Interesse gegenüber ihren Intentionen und Gedanken. Man greift das positiv Erscheinende auf und führt es ggf. weiter. Das beruht auf »freier Empfänglichkeit«, die ihrerseits wieder geistige Produktivität hervorruft. An die Stelle von Meinungen mit ihrer Abgrenzungsgeste tritt die Arbeit an und mit Ideen, die naturgemäß das Vereinigende in den Vordergrund stellt. Ideenförmiges Vorgehen schließt – im Unterschied zum meinungsverhafteten – die Initiative und Intentionen des Handelns ein, den Zusammenhang der Details im Ganzen und einen Übergang zur Tat. Was auf der Meinungsebene die (widerstreitenden) Vorstellungen sind, findet sich im Bereich der Ideen als (unterschiedliche) Aspekte einer und derselben Sache. Wie oft wird »Widerspruch« signalisiert, wo es sich bei näherem Hinsehen nur um verschiedenartige Sichtweisen handelt!

Wie kann ein solches, auf geistiger Produktivität und aktiver Empfänglichkeit beruhendes Geschehen im täglichen Handeln der Schule wirksam werden? Dies geschieht durch die dialogischen Prozesse der Zusammenarbeit: individuelle Begegnung, Transparenz, Ideenbildung/Beratung und Entschluss. Sie konnten im Workshop nur ansatzweise berührt werden, sind aber bis ins Einzelne ausgearbeitet worden.

So vorzugehen, vermeidet auch ein häufig auftretendes Problem bei Beschlussfassungen: Beschlüsse werden nicht nach Mehrheit gefasst, sondern in individueller Verantwortung. An die Stelle »kollektiver Verantwortungslosigkeit« (wie manche das herkömmliche Verfahren nennen) tritt individuelle Initiative, die mit den Anderen sorgfältig abgestimmt ist (Beratung als Prozess) und sich insofern von direktorialer Leitung grundlegend unterscheidet.

Im Umgang mit und unter Eltern gilt Entsprechendes. Das wurde im Workshop eingehend besprochen (die meisten Teilnehmer waren »Nicht-Lehrer«).

Alles in allem handelt es sich um einen nötigen, aber auch möglichen Paradigmenwechsel in den Fragen der Führung und der Zusammenarbeit. Viele Teilnehmer ließen erkennen, dass sie sich durch solche Gesichtspunkte zu neuer Tatkraft angeregt fühlten.

Ausführlicher Bericht: siehe Website der Pädagogischen Akademie am Hardenberg Institut: www.paedagogische-akademie.de

Zum Thema: Karl-Martin Dietz, Produktivität und Empfänglichkeit. Das unbeachtete Arbeitsprinzip des Geisteslebens, Heidelberg 2008