Steine hauen im Tessin

Thomas Verbeck

Jüngere Werklehrer, interessierte Bildhauer und Steinmetze, engagierte Eltern, die den Wert der künstlerischen Arbeit entdeckt hatten, und ehemalige Waldorfschüler auf Berufssuche fühlten sich von diesem Bericht angesprochen und machten sich auf den Weg ins Tessin. Zuletzt gesellte sich noch eine Gruppe von Studierenden der Stuttgarter Hochschule dazu. Damit steht diese Fortbildungsveranstaltung des Arbeitskreises der Werklehrer an Waldorfschulen jetzt wieder auf sicheren Füßen. 

Bewährtes Motto, neuer Schwung 

Seinerzeit hatten zwei junge, engagierte Werklehrer aus ihrer gemeinsamen Seminarzeit heraus beschlossen, eine »neue« Form der Fortbildung ins Leben zu rufen. Es sollte gerade nicht die Koryphäe, die altehrwürdige Autorität sein, die bildhauerisch-pädagogisch wertvolle Maßstäbe setzt. Jeder sollte zeigen, wo er in seiner Arbeit stand und was er konnte. Diese gemeinsame Tätigkeit sollte die Chance bieten, sich handwerklich und arbeitstechnisch weiterzuentwickeln und voneinander zu lernen.

Erster Schritt: Sich einlassen. Der kristalline Marmor im oberen Maggiatal fordert den, der ihn bearbeiten will, immer wieder neu heraus. Mag sein, dass man eine bestimmte Vorstellung von dem hat, was man erschaffen möchte, mag sein, dass man einfach den Stein wählt, der einem in der riesigen Halde des Steinbruchs ins Auge springt. Spätestens, wenn der Stein auf dem Bock liegt, beginnt mit den ersten Schlägen die Auseinandersetzung: Es passiert zunächst nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Der Blick zum Nachbarn oder der Tipp eines Kollegen helfen mir vielleicht weiter und ich taste mich zuerst einmal vorsichtig oder beherzt an die gesamte Oberfläche heran, fange an, mich auf ihn und den Arbeitsprozess einzulassen …

Zweiter Schritt: Sich selbst erfahren. Nach etlichen Stunden Arbeit habe ich einige Erfahrung darüber gewonnen, wie der Stein sich unter meinen Hammerschlägen verhält: Sperrt er sich, springt das Material wie gewollt ab, spaltet er sich und reißt? Alles ist möglich. – Will ich zu viel? Bin ich entschlossen genug? Traue ich mich? Weiche ich frustriert vor der Härte des Materials zurück? Verliere ich mich selbstverliebt in Details und verliere damit den Blick fürs Ganze? All dies kann ich erleben und mich daran selbst erfahren.

Dritter Schritt: Sich begegnen. Die eigene Arbeit allein oder mit einem Kollegen zu betrachten, macht mir bewusst, was ich getan habe, wo mir etwas gelungen ist, zeigt mir vielleicht einen Weg, wie es weitergehen kann. Ich höre aber auch, wie es dem anderen bei der Arbeit ergangen ist, welche Erfolge und Misserfolge sich eingestellt haben, erlebe mit, wie er damit umgeht. In der Begegnung und gegen­seitigen Wahrnehmung bildet sich ein Vertrauen in den anderen.

Vierter Schritt: Fragen stellen. Kollegiale Arbeit schafft eine Atmosphäre, in der man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Da gibt es Unterschiede in der Lebens- und Berufserfahrung oder biographisch problematische Situationen, in denen der eine mitten drinsteckt und die der andere schon überwunden hat, da gibt es schulische Verhältnisse, die den einen an den Rand der Verzweiflung treiben und die der andere meistert – alles kann Thema sein im persönlichen Gespräch oder in der größeren Gruppe, ohne dass ein schulmeisterlich belehrender Ton aufkommt.

Fünfter Schritt: Miteinander arbeiten – voneinander lernen.

All dies vollzieht sich während der gemeinsamen Woche in der eindrucksvollen herbstlichen Natur der Tessiner Berge und der urigen »Casa Antica«, in der wir untergebracht sind. Der pädagogische Austausch unter tätigen Lehrern steht gleichberechtigt neben den die Schule betreffenden existenziellen Fragen der Studenten.

»Miteinander arbeiten – voneinander lernen« heißt praktische Fortbildung, Lehrerbildung, individuelle Entwicklung. Der behauene Stein ist nur ein sichtbares Bild des gemeinsamen Tuns. Die Erlebnisse und Erfahrungen wirken lebendig in uns. Ein Luxemburger Kollege brachte es vor einiger Zeit auf den Punkt: »Meine Unterrichtsvorbereitung mache ich im Maggiatal.« 

Im Herbst 2011 treffen wir uns wieder. Wer sich eingeladen fühlt, nehme Kontakt auf zu Hans Hietel, Werklehrer an der Parzivalschule in Karlsruhe, der alljährlich die Treffen organisiert. 

Information und Anmeldung: h.hietel@gmx.at 

Termin: Fortbildungsbroschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen.

Infos über »unser« Haus: www.casaantica.ch