Verzaubert-entzaubertes Indien. Nanhi Dunya – eine kleine Welt voller Kinder

Valentin Sagvosdkin

Nanhi Dunya ist eine kleine Welt, in der ich die große Welt kennenlerne – eine Welt voller Kinder! Und es sind die allerkleinsten, die mich sofort zu sich in den Kindergarten ziehen mit ihren kleinen Händchen und ihren Rufen: »Baja! – Bruder!« Kleine farbige Stühlchen, eine kleine Tafel, ein schön zurechtgemachter Raum zum Spielen und Singen – nur die dünne Pappwand zwischen den Klassenzimmern lässt jeden Laut herein. Gong – Gong! Alle versammeln sich draußen in zwei Reihen nach dem Orgelpfeifenprinzip. Es geht drunter und drüber. – Gehörlose Kinder unterhalten sich mit hörenden. Ein behindertes Mädchen, das aus der Reihe tanzt, wird von einem aufmerksamen Mitschüler bei der Hand genommen. Noch nie habe ich eine solche selbstverständliche soziale Atmosphäre erlebt. Ruhe kehrt ein, als vielleicht vierzig bis fünfzig Kinder einen Kreis bilden, um den Tag mit Gebet und Liedern zu beginnen. Die Sonne, die Bäume, die Berge, der Nachbar und man selbst werden begrüßt, bis es schließlich heißt: »Good morning everyone!«

»Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst«

Indisch leben heißt, sich verändern. Andere Dinge essen, beim »Ja« den Kopf schütteln, ohne Toilettenpapier, dafür aber mit einem Wasserkrug auf die Toilette gehen … Unvorstellbar ist das hier und leicht ist es, wenn man dort ist. Ich begegne einem alten Mann, der fast blind, fast taub und stumm ist und kaum gehen kann, einem Waisenkind, den Schulleitern, Lehrern und Mitfreiwilligen. Als Weißer werde ich oft bevorzugt. Ich ernte neugierige Blicke, als ich eine Holzwerkstatt baue, da es nicht üblich ist, Europäer mit den Händen arbeiten zu sehen. Aber das Schönste ist, die Kinder zu unterrichten.

Tag für Tag lerne ich indische Besonderheiten kennen – Feste, Verhaltensweisen, religiöse Bräuche. Es ist nicht immer leicht, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Viele können kaum Englisch, auch die Kinder nicht, aber mit etwas Hindi, mit Gebärdensprache und Händen und Füßen geht alles. Ich lerne Ängste abzulegen, Vorurteile in Frage zu stellen. Ich bekomme einen Geschmack von Indien, einem zauberhaften Land, wenn man an die vielen Religionen denkt, die Stimmung am Ganges, das Lächeln der muslimischen Familie, die mich einlädt, und die hohen Berge des Himalaja. Ich bekomme aber auch einen Geschmack vom entzauberten Indien, wenn ich den vielen Müll auf den Straßen sehe, die Armut. Der eindrücklichste Gegensatz-Moment ist, als ich in einem Nobel-Mercedes mitgenommen und vor Nanhi Dunya abgesetzt werde. Der Wagen dürfte so viel wert sein wie die ganze Nanhi Dunya Schule.

Bildung, die etwas verändert

Wie geht das, Kinder zu erziehen, die sich im harten indischen Alltag durchzuschlagen wissen, ohne dass dieser Menschenmoloch sie verschlingt? Nanhi Dunya will ihnen die Chance bieten, auch fast ohne Schulgeld, richtig lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Und vielleicht noch wichtiger: Es soll ihnen durch Singen, Malen, Tanzen die indische Kultur mitgegeben werden. Wer durch indische Straßen geht, in Tee-Buden und Läden hineinschaut oder ein paar Nanhi Dunya-Kinder besucht, die im Extremfall unter einer Plane auf der Straße oder aber mit ihren Familien dicht gedrängt auf engem Raum in kleinen Behausungen leben, weiß warum. Aber auch wenn man erlebt, wie die Nachbarskinder, die mit ihren Eltern in einer Garage sich ein Bett teilen, jeden Tag auf die Straße gerannt kommen, um einen zu begrüßen – bis zu dem Tag, an dem der Fernseher Einzug hält.

Es begann auf einem umgestürzten Baum

Nanhi Dunya ist keine Waldorfschule – sie ist eine kleine Bewegung, die zwölf weitere, teils sehr arme Schulen im Norden Indiens umfasst, mit einer eigenen Geschichte, die ihren Anfang nahm, als Lekh Raj Ulfat 1946 ein paar Kinder von der Straße holte und ihnen auf einem umgestürzten Baum sitzend Geschichten erzählte. Seitdem ist viel geschehen – Nanhi Dunya ist gewachsen, hatte aber nie das Geld der Ober- und Mittelschicht, mit dem die Waldorfschulen im Süden Indiens sich finanzieren. Doch wohin mit den behinderten Kindern, den Autisten und Gehörlosen, den Kindern, die sonst arbeiten müssten? Für sie alle ist Nanhi Dunya ein Ort, an dem sie lernen und sein dürfen. Die jungen Lehrer arbeiten für diese Kinder mit allem, was ihnen aus der indischen Kultur zur Verfügung steht – Lehrbüchern, Liedern, Gedichten – und was von Gästen und Freiwilligen hereingebracht wird. Nanhi Dunya, inspiriert von Steiner, Krishnamurti und Gandhi »funktioniert« bisher nach keinem festen Lehrplan. Dass eines Tages Kinder aus allen Bevölkerungsschichten diese Schule besuchen, ist noch Vision. Doch Theaterspielen, Singen, sich gegenseitig helfen, im Kreis stehen, um sich jeden Morgen zu begrüßen: »Good morning everyone!«, das gibt es schon.

Links: http://nanhidunya.jimdo.com | www.indienwaerts.de.tl