In Bewegung

Ist der Geschichtsunterricht an Waldorfschulen wissenschaftlich begründet?

Michael Zech

Global- und Kulturgeschichte im Spannungsfeld von Konzeptkonstanz und Wandel

Im September 2019 feierte die Waldorfpädagogik ihr 100-jähriges Bestehen. Ihr Curriculum war von Anfang an kulturgeschichtlich und nicht nationalgeschichtlich orientiert. Seine universalgeschichtliche und eurozentrische Prägung erfuhr es durch Rudolf Steiner. In das an den Waldorfschulen lange Zeit vermittelte Narrativ flossen die anthroposophischen Begründungen ihres Ideengebers ein. Auch in den nach 1945 wieder eröffneten Waldorfschulen wurde der Geschichtsunterricht von Steiner jetzt als »Bewusstseinsgeschichte« interpretiertes Narrativ abgeleitet. Ab den 1970er Jahren tauchten in den waldorfinternen Handreichungen zunehmend globalgeschichtliche und interkulturelle Argumentationen auf, wurden aber nur selten metahistorisch reflektiert: Erst seit den 1990er Jahren wird in Waldorfkreisen das lange tradierte Geschichtskonzept mit seinen möglichen ideologischen Implikationen diskutiert (Zech 2012).

Die Interpretation von Kulturgeschichte an den Waldorfschulen hat sich zwischen 1919 und 2019 gewandelt. Der menschheitlich und global orientierte Ansatz versteht heute Kulturgeschichte weder als vereinheitlichende Universalgeschichte, noch als Hierarchisierung von Kulturen (Zech, 2016). Der dem Waldorf-Ansatz heute zugrundeliegende Kulturbegriff schließt in ihn alle Hervorbringungen und Bereiche menschlicher Praxis bzw. alle Gesellschaftsbereiche ein, zu denen auch die Politik gehört (Zech 2018, S. 300–303). Er folgt damit einer Definition, die in der Geschichtsdidaktik unter anderem von Pandel verwendet wird: »Kultur ist in diesem Sinne eine analytische Kategorie, mit der politisches Handeln, Ereignisse und Institutionen untersucht werden können.« (Pandel 2013, S. 35–36) Wird Kultur als Ausdruck von Bewusstseinshaltungen und Mentalitäten interpretiert, kann historische Bildung die Vielheit der Selbst- und Weltdeutungen aus ihren jeweiligen Bedingungen und Hinterlassenschaften erschließen und ein reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein anbahnen. Auf dieser Grundlage kann jedes Individuum sein Geschichtsbild permanent in Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt ausgestalten und so an der Ausgestaltung der Geschichtskultur teilhaben (Richter 2016, S. 284–287). 

Die dazu nötigen Denk- und Urteilsformen werden allerdings anders als in den kompetenzorientierten Bildungsplänen der Regelschulen aufgebaut. So wird der Fokus auf einer ersten Ebene auf historische Imagination sowie Zeit- und Raumorientierung gerichtet und der Konstruktionscharakter von Geschichte erst ab Klasse neun erschlossen. In Klasse zwölf wird Geschichte auf einer erkenntnistheoretischen Ebene thematisiert, und damit einer reflexiven Auseinandersetzung zugeführt (vgl. folgendes Schema sowie Zech 2018, S. 318–324).

Der Bezug zu globalgeschichtlichen didaktischen Konzepten (unter anderem Popp 2005, S. 35) liegt, je nach Jahrgangsstufe, auf unterschiedlichen Ebenen. So wird die in Klasse acht thematisierte moderne Zivilisationsgeschichte mit den Aspekten Energie, Rohstoffe, Industrialisierung, Arbeit, Alltag und Soziales aus der Perspektive globaler Verflechtungsgeschichte vermittelt, die politische Geschichte der Neuzeit in Klasse neun weltgeschichtlich perspektiviert, der Wandel zwischen Frühgeschichte und Antike in Klasse zehn eher in einer Kulturgeschichte der Räume angelegt und in Klasse zwölf die Moderne unter anderem in einer die Funktion historischer Narrative analysierenden Betrachtung von global auftretenden Phänomenen wie Migration, Krieg, Nationalismus, Genozide etc. reflektiert (Richter 2016, S.287–312).

Hans-Jürgen Pandel fordert, die Geschichtsdidaktik müsse »den tiefgreifenden Wandel von der Politik- über die Sozial- zur Kulturgeschichte zur Kenntnis nehmen« (Pandel 2013, S. 35). Für die Waldorfschulen kann einschränkend festgestellt werden, dass sie zwar seit einem Jahrhundert einen kulturgeschichtlichen – heute kommunikativen – Ansatz verfolgen, aber in der Unterrichtspraxis der Herausforderung begegnen müssen, ihr kulturgeschichtliches Verständnis nicht aus einer naiven Steiner-Rezeption abzuleiten. Denn Steiners chronologisch angeordnetes, epochalisiertes Narrativ – vor allem sein hierarchisierendes Konzept von auf einander folgenden Hochkulturen – ist als globalgeschichtliches Konzept völlig überholt. Das hierarchisierende Kulturstufenmodell, das die Geschichte auf Hochkulturen reduziert, diskriminiert andere Kulturen und ignoriert ihre Beiträge zur Menschheitsgeschichte. Zudem widerspricht die von Steiner vor über 100 Jahren vorgenommene räumliche und zeitliche Zuordnung vor allem der älteren »Kulturepochen« vielfach dem heutigen Erkenntnisstand. Steiners Ideen zu einer Kulturgeschichte des Bewusstseinswandels müssen nicht pauschal verworfen werden, regen sie doch zu einem differenzierten Verstehen von nicht-sesshaften Kulturen, von Bauernkulturen, von theokratischen Kulturen, von reflexionsgestützten Kulturen nach der Achsenzeit (unter anderem griechische und römische Antike) durchaus an. Nur müssen seine qualitativen Charakterisierungen von stereotypisierenden Vereinfachungen befreit, mit den heutigen Funden und Quellen bzw. geschichtlichen Erkenntnissen abgeglichen und von ihren falschen räumlichen und zeitlichen Bezügen befreit werden. Unter anderem sollten die jüngeren Publikationen der Pädagogischen Forschungsstelle am Bund der Freien Waldorfschulen sowie die jeweilige Neuauflage der Waldorflehrplans Berücksichtigung finden.

Wissenschaftlichkeit fordert Teilnahme am Diskurs 

Obwohl sich die Akteure im Binnendiskurs der Waldorf-Bewegung zu allen Zeiten mit den jeweils aktuellen Gesellschaftsfragen und wissenschaftlichen Erkenntnissen explizit auseinandersetzten, nahmen sie bis vor kurzem nicht am akademischen Diskurs teil. Gleichzeitig wurden sie, vermutlich wegen ihres anthroposophischen Begründungszusammenhangs, von ihm ignoriert. Erst seit etwa zehn Jahren werden die (nicht zuletzt begrifflichen) Diskurshindernisse abgebaut und der Binnendiskurs zum Geschichtsunterricht an den Waldorfschulen wird zu akademischen geschichtsdidaktischen Forschungen in Beziehung gesetzt (unter anderem Hüttig 2019). Hier sollen die aktuelle Bezugnahme auf den fachdidaktischen Diskurs um Global- und Weltgeschichte und die sich für die Waldorfschulen ergebenden curricularen Gestaltungsaspekte zur Diskussion gestellt werden.

Wo sind die Baustellen?

Generell sind die Klassenlehrer*innen, die ja in der Regel kein universitäres Geschichtsstudium absolviert haben, vor große Herausforderungen gestellt. Sie hängen nicht nur mit der Überwindung falscher bzw. schiefer Narrative zusammen, die sich an den Waldorfschulen durch das Weiterreichen überholter Konzepte im Sinne einer Konzeptkonstanz etabliert haben, sondern auch mit dem Umbruch unseres Kulturbewusstseins. Auf die eigenen, in der Regel nationalgeschichtlich geprägten Schulerfahrungen kann nicht mehr zurückgegriffen werden. Es geht nicht mehr um die Vermittlung eines verbindlichen Narrativs, sondern um die Fähigkeit, sein eigenes aufzubauen, indem sich man sich mit den (mitgebrachten) Geschichten anderer Kulturen in Beziehung setzt, die eigene Perspektive erkennt und durchdenkt sowie Kultur grundsätzlich unter dem Aspekt von Austausch und Kommunikation als transkulturellen Prozess erkennen lernt (Adam/ Schmelzer 2019; Zech, 2018, S. 331–336). 

Im Waldorflehrplan ist der Einstieg in die Geschichte (Klasse fünf) zu überdenken. Die naiv weitergegeben Inhalte zu einer urindischen und urpersischen Kulturepoche bedürfen eines erweiterten und fundierteren Ansatzes. Die Geschichte der frühen Neuzeit (Klasse sieben), insbesondere der Beginn der europäischen Expansion, kann angesichts ihrer Unmenschlichkeiten nicht länger einseitig als Helden- und Aufbruchsgeschichte vermittelt werden. Die jüngste Geschichte (Klasse acht und neun) muss auf zwei Ebenen bis in die Gegenwart thematisiert werden, in Klasse acht auf der Ebene der Geschichte der Zivilisationen und Räume, in Klasse neun auf der politisch relevanten Ebene der aus der Individualisierung und Aufklärung hervorgehenden ideellen Ansprüche. Für Klasse zehn sind die vorliegenden Ausarbeitungen zur Frühgeschichte bzw. zu vorantiken Kulturen zu ergänzen. Sie enthalten übrigens für den Einstig in die Geschichte in Klasse fünf fruchtbare Anregungen. Für Klasse zwölf könnte der erkenntnistheoretisch-philosophisch unterlegte kulturgeschichtliche Überblick in Längsschnitten deutlicher profiliert werden, liegen doch in ihm Ansätze, durch die dem Geschichtsunterricht an Waldorfschulen im aktuellen globalhistorischen, diversitätshistorischen, dekolonialen sowie narrativitätstheoretischen geschichtsdidaktischen Diskurs durchaus avantgardistische Qualitäten zugeschrieben werden könnten.

Literatur:

Albrecht Hüttig: »Neuere Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft – Methodologische, inhaltliche und pädagogische Dimensionen«. In: Albrecht Hüttig(Hrsg.): Wissenschaft im Wandel. Zum Oberstufenunterricht an Waldorfschulen. Berlin 2019, S. 331–380.

Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/Ts. 2013.

Susanne Popp: »Orientierungshorizonte erweitern – welt und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht.

Überlegungen im Kontext der Entwicklung von Bildungsstandards für das Fach Geschichte.« In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, H 69/2005, S. 27–49.

Tobias Richter (Hrsg.): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule. 4. Auflage. Stuttgart 2016, S. 284–312.

Christiane Adam, Albert Schmelzer: Interkulturalität und Waldorfschule. Weinheim/ Basel 2019.

M. Michael Zech: Der Geschichtsunterricht an den Waldorfschulen. Genese und Umsetzung des Konzepts vor dem Hintergrund des aktuellen geschichtsdidaktischen Diskurses. Frankfurt/M., 2012.

Ders.: »Das anthroposophische Geschichtsverständnis vor dem Hintergrund waldorfpädagogischer, erziehungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Positionen.« In: Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Weinheim/ Basel 2016, S. 812–856.

Ders.: »Geschichte«. In: Sigler Stefan, Sommer Wilfried, M. Michael Zech (Hrsg.): Handbuch Oberstufenunterricht an Waldorfschulen. Weinheim/ Basel 2018, S. 289–346.

Kommentare

Ruth Tüscher, Seewen,

Es ist tatsächlich eine in Waldorfschulen weitverbreitete Unsitte, sich ausschließlich auf tradierte Inhalte zu stützen und damit zum Teil den schlimmsten Rassismus in die Klassenzimmer zu tragen. Ich zitiere aus dem Geschichtsheft meiner Tochter über die Hunnen: " furchterregend sahen sie aus, klein, krummbeinig, gelbhäutig, mit kleinen, scharfen, schwarzen Schlitzaugen, platter Nase, breitem Mund und abstehenden Ohren." Die Lehrerin erzählte, dass die Hunnen ohne Sättel und richtiges Zaumzeug geritten wären und rohes Fleisch gegessen hätten. Dies widerspricht klar dem heutigen Wissenstand.