Erziehungskunst | Herr Riethmüller, welche Beziehung haben Sie zur Erziehungskunst?
Walter Riethmüller | Die Erziehungskunst lese ich seit 1977, als ich für ein Jahr Student am Stuttgarter Lehrerseminar war. Von 2001 bis 2003 war ich Redakteur. Insofern verfolge ich das Magazin nun seit 46 Jahren. Als ich sie kennenlernte, hatte die Erziehungskunst zwei wesentliche Aufgaben: Einerseits die Vertiefung von Lehrplaninhalten – die Zielgruppe bestand hauptsächlich aus Lehrer:innen – und andererseits die Vertiefung von anthroposophischen Gesichtspunkten im Hinblick auf die Entwicklung der Persönlichkeit vom Kleinkind zum Erwachsenen.
EK | Wie hat sich die Erziehungskunst, die es bald 100 Jahre gibt, entwickelt?
WR | Es war Tradition seit der Gründung der ersten Waldorfschule, dass die Lehrenden auch Forschende sein sollten. Ihre Forschungsergebnisse in Bezug auf ihr Fach, das sie ja eigentlich jeweils neu erfinden mussten, haben sie dann seit 1926 in der Erziehungskunst veröffentlicht. Und in Bezug auf die Arbeit an der Menschenkunde Rudolf Steiners hatte die Erziehungskunst in den ersten zehn Jahren auch die Aufgabe, die Steinerschen Gesichtspunkte in eine pädagogisch-praktische Sprache zu übersetzen, um Eltern in die Pädagogik mit einzubeziehen. Es war Rudolf Steiner ein großes Anliegen, dass die Eltern von Anfang an mitarbeiteten. Damit hatte die Zeitschrift auch ein stark volkspädagogisches Gepräge. Wenn ich die Texte der ersten Jahre heute lese, dann kann ich immer nur staunen: Wie haben die ersten Lehrer:innen das nur geschafft angesichts dieser Pioniersituation! Das ist schon aller Ehren wert! Zusammenfassend kann man sagen, das wesentliche Thema in der Erziehungskunst bis Mitte der 1930er Jahre ist die Entwicklung der Waldorfpädagogik.
Der zweite Teil, also die Phase etwa bis in die neunziger Jahre war dann die Verbreitung der Waldorfpädagogik mit der gleichzeitigen Vertiefung auf bestimmten Gebieten. In den 1970er -und 80er Jahren wurden die Themen hauptsächlich auf den großen Herbsttagungen angeschlagen (zu einer Herbsttagung versammelten sich damals rund 1.000 Lehrkräfte, etwa ein gutes Drittel der Gesamtlehrerschaft). Die Vorträge waren grundlegend für die pädagogische Arbeit, sie erschienen in der Erziehungskunst und fanden so ihren Weg in Kollegien. Große Themen waren die Sprache samt Grammatik, die Musik, das Jugendalter. In dieser Zeit muss die Erziehungskunst für Eltern, die sich nicht total in diese Themen vertieften, ziemlich harte Kost gewesen sein, wenn nicht ein umfangreicher Teil der Zeitschrift über die Entwicklung der Schulbewegung berichtet hätte. Damals waren die Themen Schulneugründungen, Einweihungen von neuen Schulgebäuden und Berichte aus dem Bundeselternrat der Waldorfschulen. In den achtziger Jahren kam dann die Medienfrage stark auf.
Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode wurde gerne zitiert, weil sich die Waldorfpädagogik da bestätigt sah. Auf die Kritik seitens der Erziehungswissenschaft an den angeblich vorwissenschaftlichen Grundlagen der Waldorfpädagogik, der Anthroposophie, die heftige Infragestellung der waldorfpädagogischen Lehrer:innenbildung, die Vorwürfe in Richtung Rassismus, wie sie zum Beispiel in einer Report-Sendung Ende der 90 er Jahre erhoben wurden, musste die Erziehungskunst thematisch reagieren; nicht zuletzt auch tiefgreifende epochale Ereignisse wie der 11. September 2001 wirkten atmosphärisch stilbildend. Als ich 2001 in der Erziehungskunst anfing, war gerade 9/11 geschehen. Die Erziehungskunst versuchte, zu untersuchen wie sich Bilder und Berichterstattung auf Kleinkinder und Schüler:innen auswirkten. Da kam dann also Zeitgeschichte ins Heft. Ich möchte diese Zeit als eine der kritischen Selbstvergewisserung charakterisieren.
Parallel zur thematischen Entwicklung gab es in jeder Phase auch einen eigenen Stil in Aufmachung und Layout, am deutlichsten ab 2012, als die Erziehungskunst von einer Abonnenten- zu einer Mitgliederzeitschrift mutierte. Themenvielfalt, Textverknappung, Illustrierung in großem Stil: das war auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig!
EK | Ihrer Einschätzung nach, in welcher Phase befinden wir uns jetzt mit der Erziehungskunst?
WR | Ich denke, jetzt ist die Zeit der Neufindung. Was ist eigentlich noch tragend an der Waldorfpädagogik? Ihrem Charakter nach sollen die Themen heute emotional bewegen und interessieren, und nicht etwa eine Bedienungsanleitung im Stile von «in der Erziehungskunst findet ihr die Grundlagen, darauf könnt ihr Euch in jeder Zeile verlassen». Es müssen unbedingt auch Anreger und Aufreger dabei sein – insofern hat sich das völlig verändert seit 2012.
EK | Ich habe den Eindruck, heute gibt es mehr Eltern als früher neu an Waldorfschulen, die sich noch überhaupt nicht mit Waldorfpädagogik beschäftigt haben. Bei manchen Leser:innen kann man viel Erfahrung an den Schulen voraussetzen und bei anderen eben noch gar keine.
WR | Ich denke, in der Erziehungskunst sollte man die anthroposophischen Begrifflichkeiten weglassen und stattdessen die Dinge, um die es sich handelt, schildern, beschreiben, charakterisieren. Wir müssen unsere Ideen konkret formulieren. Das ist eine große Kunst.
EK | Mich hat in Leipzig eine Mutter angesprochen, die sich bei mir beklagte, dass die Erziehungskunst neuerdings nicht mehr die schöne Waldorfschule zeigt. Ich habe geantwortet, dass das durchaus beabsichtigt sei.
WR | Schöner wäre es doch, wenn wir zeigen könnten, bei uns ist alles lebendig. Hartmut Rosa propagiert für das soziale Leben heute eine medium-passive Empathie-Haltung. Er meint damit, dass man die Haltung des «Entweder – Oder», die nur Zustimmung oder Ablehnung kenne, auflösen müsse zugunsten eines Zwischenraums, in dem es geschehen kann: das Sich-berühren-lassen von anderen Gesichtspunkten, den Zwischenraum schaffen, in dem etwas geschehen kann, welches eben nicht durch sofortige Ablehnung oder Zustimmung gekennzeichnet ist. In dieser Haltung des Zwischenraums kann sich Neues entwickeln. Das zu schaffen ist eine hohe Sozialkunst. Und das ist genau die Geste des Tanzes: Nicht sich zu behaupten oder durchzusetzen oder gar dem Anderen auf die Füße zu treten ist hier gefragt, sondern sich auf den anderen einzulassen, bis man in einen Bereich hinein kommt, wo niemand mehr weiß, werde ich geführt oder führe ich?
Wie könnte sich die Waldorfpädagogik aus dieser Haltung heraus entwickeln? Heute muss man Steiner neu lesen, mit dem Herzen von 2023. Ich kann auch heute noch so viel finden, was mich bereichert. Sein Blick auf die Welt, auf das Kind, und das Ganze im Element der Freiheit, also der völligen Freilassung – wenn man es schafft, da durchzudringen, dann ist die Anthroposophie etwas Tragendes. Die Lektüre bringt die eigenen Gedanken in Bewegung. Das, was Steiner gesagt hat, das versuche ich zu verstehen und damit versuche ich zu begründen, was an dieser Pädagogik eigentlich wirklich trägt. Das ist meine Haltung und ich glaube die spiegelt sich auch ein wenig in der Erziehungskunst wider. Es ist nicht die Gewissheit des unerschütterlichen Wissens, sondern eine der gegründeten Offenheit. Das ist natürlich ein Paradox, aber ein fruchtbares! Wir haben es nicht mit Gegnern zu tun, sondern mit Fragen. Und wenn man da dranbleibt, verändert man sich. Man ist imprägniert, aber kein Fundamentalist. Das Freiheitselement, das war und ist mir sehr wichtig, das finde ich in der Anthroposophie wieder. Dieses sollte auch in der Erziehungskunst leben. Sie sollte Fragen aufwerfen und nicht Lebenssicherheiten verkünden.
Die ersten Lehrer:innen an der Waldorfschule – und mit ihnen ja auch Caroline von Heydebrand, die erste Chefredakteurin der Erziehungskunst – haben ja nicht nur den kreativen Umgang mit den Angaben Steiners geprägt, sondern sie waren auch in ihrer Begeisterung ansteckend. Das hat über Jahrzehnte gewirkt. Fatal ist, dass das, was sie sich bei der Gestaltung der Unterrichtsstoffe erarbeitet haben, später als Standard angesehen wurde – auf Kosten der Lebendigkeit, die sich aus dem individuellen Bemühen der Lehrer:innen im Zusammenklang mit ihren jeweiligen Schüler:innen, der Zeitsituation und ihren Erfordernissen ergeben mochte. Das Festhalten an lieb gewonnenen Traditionen muss begründet sein, ebenso auch die Bereitschaft, andere Wege zu gehen aus der Gewissheit heraus, dass neue Zeiten mit den heutigen Kindern und Jugendlichen eben auch eine andere Waldorfpädagogik verlangen.
EK | Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Angelika Lonnemann.
Walter Riethmüller, * 1948, Studium der Byzantinistik und Slavistik in München, sieben Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Osteuropa-Institut, Klassenlehrer in den Waldorfschulen in Freiburg – St. Georgen und Stuttgart am Kräherwald, seit 1990 Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, ab 2010 auch am Seminar für Waldorfpädagogik Berlin. Ehemals Mitglied des Ausbildungsrats und Vorstand im BdFWS. Seit 16 Jahren Vorstand der Pädagogischen Forschungsstelle.
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