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Waldorfpädagogik im Dschungel

Samira Fürmetz

Die waldorf-inspirierte Oak-School in Kathu (Thailand), an der ich ein vierwöchiges Praktikum absolviert habe, ist sicherlich vieles, nur nicht gewöhnlich. Sie liegt fünfzehn Gehminuten vom Rand der Stadt entfernt, mitten im dichten Dschungel des thailändischen Südzipfels. Sie besteht aus drei in den bewaldeten Berghang gebauten Bambushütten. Ein Klassenzimmer, eine Küche und ein Studierzimmer über der Küche. Der Unterricht findet von neun bis 15 Uhr statt, dazwischen gibt es Essen, Pausen, Duschen und Zeit zum Spielen am Bach, der direkt durch das Gelände fließt. Das Alter der Kinder ist genau so unterschiedlich, wie die sieben Nationalitäten, die in der einen Schulklasse vertreten sind. Das Jüngste ist drei Monate alt, das Älteste neun Jahre. Drei der Kinder haben keinen Pass, sprechen weder Englisch noch Thailändisch, und sind staatenlose Burmesen, deren Eltern vor einigen Jahren mit dem Boot nach Thailand flohen. Zwei der Kinder haben Förderbedarf unbekannten Grades. Das Personal besteht aus der thailändischen Khru Bo, der italienisch-stämmigen Gründerin und Kinderpsychologin Debi, der Köchin Susu und (für vier Wochen) mir. 

Vieles erinnert an Waldorfpädagogik, anderes nicht. Das Konzept der Schule ist in Teilbereichen mal mehr und mal weniger deutlich. Vieles ist vollkommen anders. Ich habe schon oft an Schulen in Asien unterrichtet, hatte meine ersten Lehrerfahrungen in Laos, und trotzdem ist hier auch für mich vieles ganz und gar unkonventionell und neu.

Impressionen

Ein kleiner Einblick in meinen ersten Tag verdeutlicht das. Ich stehe mitten im Dschungel, umringt von Kindern, die in alle Richtungen des Waldes rennen und von denen nur die Hälfte ausreichend Englisch spricht, um mit mir zu kommunizieren und die daran auch scheinbar nur geringes Interesse haben. Ich stehe da und frage mich: Was passiert hier? Dürfen die das? Dürfen sie auch da auf den Steinen über einen Abgrund klettern und sich in den kalten Bach werfen, um sich von oben bis unten mit Sand und Matsch zu beschmieren? Dort schwankt ein Kind einbeinig auf einem morschen Ast, das andere rollt einen zwanzig Kilogramm schweren Stein den Abhang hinunter. Eigentlich bin ich nicht ängstlich oder überfürsorglich, aber die Kinder unterliegen meiner Aufsicht. Nutzen sie meine Unerfahrenheit aus? Muss ich Einhalt gebieten? Selbstwirksamkeit und Exploration sind wichtige pädagogische Ideale, aber bis zu welchem Grad? Und warum bin ich eigentlich ganz alleine?

Die Schule

Die Schule ist eine Privatschule. Früher waren hier mehr Ausländerinnen und Ausländer. Kinder, deren Eltern ihnen einmal das Abenteuer einer Dschungelschule ermöglichen wollten, andere die sich erhofften, eine Alternative zum thailändischen Schulsystem oder den elitären internationalen Schulen gefunden zu haben (welche oft 1.500 Euro im Monat kosten). Willkommen sind hier alle, unabhängig von Begabungen oder sozialen Hintergründen. Die Gegenwelt sieht in Thailand anders aus: Viele Kinder verbringen schon vom Säuglingsalter an täglich mehrere Stunden vor den Bildschirmen von Smartphones. Die einheimischen Eltern haben Jobs an Straßenküchen, müssen ihre Kinder in Ermangelung bezahlbarer Betreuung schon früh beschäftigen, um selbst arbeiten zu können. Das Smartphone dient als Babysitter. Die Kinderkörbe liegen unter den Ständen, Handy-Greifarm inklusive. Schlechte motorische Entwicklung, wenig Konzentrationsfähigkeit, emotionale und intellektuelle Defizite sind bei vielen Kindern die Folge. 

Dazu bietet die Dschungelschule ein Alternativmodell: Es kommt mir vor, wie ein utopisches Mikro-Experiment unter einer Käseglocke. Niemand urteilt oder bewertet hier. Kein Kultusministerium, keine Gemeinde, keine alteingeschworenen Waldorfpädagogen. Wieso immer so viel darüber reden und nicht einfach ausprobieren, ist hier die Devise.

Und augenscheinlich geht sie auf.Oft wird von den Vorteilen alters­übergreifender Klassen bspw. an Montessorischulen geredet. Aber die Durchmischung von Kleinkindern und Viertklässlerinnen und Viertklässlern wird nicht in Erwägung gezogen. Wir bleiben in Denkschubladen stecken: Durchmischung ja, aber nur auf bestimmte Weise. Integration ja, aber nur in einem bestimmten Rahmen. Was macht aber ein dreijähriges Kind in einer Klasse älterer Kinder? Es ähnelt hier oft mehr einer Großfamilie als einer Schule. Nicht zuletzt, da die kleinen Kinder hier einmal am Tag vor dem Mittagessen geduscht und umgezogen werden. Die Älteren helfen dabei freiwillig. Zunächst fand ich diese Nähe und Aufgabenvielfalt befremdlich. Ich dachte: Jetzt habe ich es bis zum Master-Studium geschafft und bin in meinem Praktikum eine unbezahlte Nanny, die Kinder badet und füttert. Auf der anderen Seite wurde mir als Lehrerin auf der Straße und von den Eltern immer viel Respekt entgegengebracht. Lehrersein hat hier einen gesellschaftlich hochangesehenen Status. Doch kulturell unterscheidet sich die Schule und der Umgang mit den Kindern stark. Ganz nach dem Konzept, «Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen», gibt es hier keine Aufgabenteilung. Zwar kocht Susu, die Köchin, die für alle wie eine Großmutter ist, das Essen, und wir, die Lehrerinnen unterrichten, aber alles dazwischen wird gemeinsam gemacht: Aufräumen, Umziehen, Baden, Milch aufwärmen … Da ist nicht die moralische Forderung dahinter, auf Augenhöhe sein zu wollen, sondern wir sind es einfach. 

Auch das unterscheidet die Oak-School, denn an thailändischen Schulen herrscht Disziplin (oft auch mit Rohrstock), eine starke Hierarchie und Diskriminierung zwischen ausländischem und einheimischem Lehrpersonal. Einheimische Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich am Putzen der Klassenzimmer und der Verteilung der Essen. Das ausländische Lehrpersonal hält sich prinzipiell aus diesen alltäglichen Aufgaben raus, obwohl (oder weil) es ein höheres Gehalt bekommt.

Ich habe mich vor meiner Anreise, während meines Studiums an der Alanus-Hochschule viel damit beschäftigt, was Schule ist und was sie sein kann. Wie war Schule früher und was ist oder soll sie im 21. Jahrhundert sein? Wann beginnt Schule und wo hört sie auf? Gibt es eine Grenze des Pädagogischen? Reichen ein Lernender und ein Lehrender aus? Wie viele Kinder brauche ich, um eine Klasse zu bilden? Wie viele für eine Schule? Werden besondere Stühle und Tische, Bücher und Materialien aus dem Waldorf-Online-Shop benötigt, um Waldorf­pädagogik zu realisieren? Bewegtes Klassenzimmer oder nicht? Welche Wachsstifte sind die richtigen? Alles Fragen, die mir hier immer mehr belanglos erscheinen. An was werden wir als Lehrerinnen und Lehrer gemessen? Unseren Methoden, unserem Charakter oder unserem Lebenslauf? Und was, wenn einfach keiner da ist, um dich zu messen oder zu bewerten – sondern nur wir selbst und natürlich die Kinder? Richten wir uns nicht selber immer an der höchsten Maxime aus? Wird nicht erst dann das Beste aus uns, wenn wir anfängliche Unsicherheiten überwinden können, an Fehlern wachsen, so wie wir es immer unseren Schülern sagen? Ich glaube, nach diesen vier Wochen haben sich viele meiner Ansichten noch einmal verändert. 

Nun, ich stehe also im Dschungel und weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Mir fehlen konkrete Anweisungen. Auf diese Situation bin ich in meinen Seminaren nicht vorbereitet worden. Es gibt kein Handbuch für so etwas. Und wie ist es juristisch? Bin ich für Unfälle der Kinder haftbar? Kann Konzeptlosigkeit ein Konzept sein? Und wenn ja, wo fängt es an, und wo hört es auf?

Ich erinnere mich an die Worte, die Debi mir kurz darauf gesagt hat: 

«Ich vertraue deinen Entscheidungen.

Du wirst nicht immer so entscheiden, wie ich es tun würde, aber wenn es die richtige Entscheidung für dich ist, wird es auch die richtige Entscheidung für die Kinder sein. Sieh sie an, sie schaffen so viel mehr als wir ihnen zutrauen.» – Also gut. Ich stehe im Dschungel umringt von Kindern, die sich wie eine Horde von Äffchen in den Bäumen, an den steilen Hängen erproben. Durchatmen. Vertrauen. Ihr schafft das schon.

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