Man hört es gerne, dass die Waldorfschule einen »ganzheitlichen« pädagogischen Ansatz verfolgt. Dieser Anspruch führt viele Eltern mit ihren Kindern zur Waldorfschule. Manchmal werden die Konsequenzen dieser Entscheidung erst später erkannt – im Positiven wie im Negativen. Im Negativen etwa, wenn beispielsweise einige Lernziele oder Abschlüsse nicht den Erwartungen entsprechen. Zwar bemüht sich auch die Waldorfschule, den Lernstoff unter dem Gesichtspunkt gegenwärtiger gesellschaftlicher Forderungen, d.h. Prüfungen, einzusetzen, primär soll er aber als Erziehungsmittel in einer bestimmten Altersstufe tauglich sein. Weil die Pädagogik der Entwicklung des Kindes und der Jugendlichen dient, verbietet sich ein Aussortieren der Schüler nach intellektueller Leistungsfähigkeit – keine Noten, kein Sitzenbleiben. Aber auf der anderen Seite gehört zur »Handlungsfähigkeit« des Menschen auch, etwas leisten zu können, Anforderungen standzuhalten und sich durch etwas hindurchzuquälen, das einem nicht so viel Spaß macht.
Die Anfänge der Waldorfschule
Schauen wir auf die Anfänge der Schule. Laut Dietrich Esterls Biographie Emil Molts regte Steiner eine Schule an, die »allen Kindern offenstehen« und »nicht nach Herkunft, Religion, Geschlecht oder Begabung selektieren« sollte. Sie sollte bis zum 16. Lebensjahr »vor allem die von der Gegenwart geforderten Fähigkeiten« in den Kindern entwickeln. Zusätzlich sollte ein elftes und zwölftes Bildungsjahr im Sinne eines »Studium Generale« angeschlossen werden. »Es ist wichtig«, so Esterl, »dass der sozialpolitische Aspekt bei der Planung der Waldorfschule viel stärker im Vordergrund stand als das Pädagogisch-Methodische oder Organisatorische«, denn sie betonen den sozialreformerischen Ansatz der Waldorfpädagogik. Und bezüglich der Abschlüsse formulierte Steiner in einer Seminarbesprechung: »Das Beste wäre die Abschaffung allen Prüfungswesens.«
Der Waldorfabschluss
Jede Waldorfschule ist aufgefordert, ihr eigenes Oberstufenkonzept zu entwickeln. An der Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell wurde akzeptiert, dass eine Waldorfschule in Bayern nur vernünftig betrieben werden kann, wenn sie einen staatlich anerkannten Abschluss (Mittlere Reife oder Abitur) anbietet.
Dies weckte auch berechtigte Befürchtungen: hoher Leistungsdruck in der Oberstufe, Gewicht der gymnasialen Fächer, »kopfmäßige« Einseitigkeit, die andere Entwicklungspotenziale der jungen Menschen ausschließt.
Aus der Diskussion über diese Fragen wurde in Gröbenzell für die Oberstufe ein Konzept der »differenzierenden Einheitsschule« (Rudolf Steiner) entwickelt, das neben die gedanklich-betrachtenden Fächer gleichwertig künstlerische und vor allem praktische Bildungsinhalte stellt. Der Handwerkerhof der Schule ist seit seiner Gründung vor 25 Jahren ein herausragendes Projekt, das auch unter Waldorfschulen seinesgleichen sucht. Alle Schüler der 9. Klasse besuchen an einem Tag pro Woche einen Handwerksbetrieb. Nach fünf Wochen Mitarbeit in einem Betrieb und Betreuung durch einen Meister wechseln die Schüler in einen anderen Betrieb, sodass sie im Laufe eines Schuljahres Berufserfahrungen in sechs Gewerken sammeln.
Vor diesem Hintergrund wird das Abschlusszeugnis der Waldorfschule Gröbenzell verständlich. Es enthält jeweils ganzseitige Gutachten zu Eurythmie, Theaterarbeit und zur Jahresarbeit, außerdem das übliche Jahreszeugnis (mit Wortgutachten), ein Notenzeugnis, eine Bescheinigung über alle Praktika der Oberstufe sowie eine Darstellung des pädagogischen Konzepts der Schule.
Die staatlich anerkannten Abschlüsse
In Bayern werden die Waldorfschulen von der staatlichen Schulverwaltung als »Ersatzschulen« für den Regelschultyp »Gymnasium« betrachtet. Sie müssen den Nachweis erbringen, dass sie erfolgreich zum Abitur führen können. Die dafür notwendige Quote ist an unserer Schule bisher immer erreicht worden.
Weil die Abschaffung aller Prüfungen nicht realisierbar ist, besteht der Kompromiss, staatliche Abschlüsse anzubieten. Deshalb schließt sich an den Waldorfabschluss das 13. Schuljahr an, das die staatlichen Abschlüsse für die Mittlere Reife und das Abitur ermöglichen soll. Die Prüfungen sind dieselben wie am Gymnasium oder an der Realschule, die Anzahl und Auswahl der Fächer ist jedoch anders: Während die Regelschüler das schriftliche Abitur in drei Fächern ablegen (Deutsch, Mathematik, ein Wahlfach), werden die Schüler der Waldorfschule in vier Fächern schriftlich geprüft (Deutsch, Mathematik, Kunst oder Musik, Geschichte). Die mündliche Prüfung legen alle in zwei Fächern ab. Die Regelschüler wählen dabei aus unterschiedlichen Fächerkombinationen, für die Waldorfschüler stehen die mündlichen Prüfungsfächer mit Englisch und Französisch fest.
Entsprechend der staatlichen Regelung führt die Rudolf-Steiner-Schule in Gröbenzell die Abiturprüfungen in Zusammenarbeit mit einem der umliegenden Gymnasien durch. Die Prüfungen finden in den Räumen der Schule statt. Die Erstkorrektur erfolgt durch die Lehrer der Waldorfschule, die Zweitkorrektur durch die Kollegen des Gymnasiums. Ebenso wird die Mittlere Reife zusammen mit einer Partnerrealschule angeboten.
Der Kompromiss
Letztlich hängt das Profil der Schule auch mit den von ihr ermöglichten Abschlüssen zusammen. Daraus entsteht ein subtiler Zusammenhang zwischen den Schuljahren der Oberstufe und den erwarteten Abschlüssen. Der Einfluss der gymnasialen Abschlussorientierung zeigt sich in zweierlei Hinsicht:
- Ausrichtung des Unterrichts auf eine externe Anforderung der Schulbürokratie
- Selektion der Klasse in einen »guten« und »schlechten« Teil.
Beide Entwicklungen werden an unserer Schule vermieden. Sie behält das Ziel der Waldorfschule bei, urteilsfähige und lebenstüchtige Menschen durch Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu fördern.
1994 machte an unserer Schule der erste Jahrgang die staatlichen Abschlüsse. Es folgten heftige Diskussionen über das eingeschlagene Schulkonzept. Vor allem die Frage der Arbeitsüberlastung und Differenzierung des Unterrichts in den obersten Klassen wurde diskutiert. Über die Jahre hat sich die Einsicht in Sinn und Wirkung unseres Schulkonzepts jedoch gefestigt.
Ein statistischer Rückblick auf die letzten Jahre zeigt folgendes Bild: Nahezu alle Schüler werden zu einem staatlichen Abschluss angemeldet, seit 2010 haben nur vier Schüler das Abitur nicht bestanden, 2016 erzielte eine Schülerin erstmals einen Notenschnitt von 1,0.
Hanns Burkert, langjähriger Oberstufenlehrer für Mathematik, räumt mit Gerüchten auf, dass das Abi-tur zu schwer sei und viele durchfallen würden:
»Angesichts der genannten Zahlen wird deutlich, dass dies Unsinn ist. Die Abschlüsse werden erfolgreich absolviert, kaum einer fällt durch, auch wenn wir die Schüler (fast immer) selbst entscheiden lassen, ob sie das Abitur versuchen wollen. Wir sind in der Landschaft der umliegenden neun Gymnasien als völlig gleichwertige Partner anerkannt. Wer als Lehrer zwei- bis dreimal eine Klasse auf das Abitur vorbereitet hat, weiß genau, worauf es ankommt. Diese Vorbereitung ist leicht, viel schwerer ist es, ein guter Waldorflehrer zu sein.«
Nach 27 Abschlussjahren seit 1994 lässt sich feststellen, dass sich das Konzept der lebenspraktischen Orientierung bewährt hat. Damit ist die Frage »Waldorfschule und staatliche Abschlüsse« nicht gelöst, aber sie ist auch kein Dilemma mehr, sondern ein belastbarer Kompromiss. Ein Schüler sagt dazu rückblickend: »Mir scheint es so, als ob diejenigen, die die 12. Klasse mit all den Dingen, die man für das Abitur scheinbar nicht braucht, am intensivsten mitgemacht haben, in der 13. Klasse die geringsten Schwierigkeiten hatten.«
Unter Mitarbeit von Hanns Burkert.
Literatur: D. Esterl: Emil Molt: Tun was gefordert ist. Stuttgart 2012 | Textauszüge von Michael Brater und Gerhard Herz aus dem Mitteilungsblatt der Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell, Sondernummer 1987, Nr. 17/1988, Nr. 35/1994
Zum Autor: Holger König ist Architekt und hat beim Neubau der Gröbenzeller Rudolf-Steiner-Schule 10 Jahre lang dem Vorstand angehört und im Baukreis die Elternarbeit organisiert. Er ist Mitglied im Redaktionsteam der Schulzeitung »Ansichten–Absichten« und verfasst dort die Artikelserie »Waldorf 2.0«.