Klaus-Peter Freitag ist seit August 2009 einer der drei Geschäftsführer im Bund der Freien Waldorfschulen in Stuttgart. Zuvor war er für die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen und in der Lehrerbildung in Witten-Annen tätig. Er unterrichtete viele Jahre in der Oberstufe Mathematik und Philosophie. Sein Engagement gilt der Zusammenarbeit der Schulen mit den Kindergärten sowie den Abschluss- und Qualitätsfragen an Waldorfschulen.
Erziehungskunst | Herr Freitag, seit einigen Jahren, besonders seit den PISA-Studien, grassiert die Testeritis im Bildungssystem. Inwiefern sind die Waldorfschulen von der politischen Zielsetzung, den »Output« der Schulen über Bildungsstandards zu steigern, betroffen und wie reagieren sie darauf?
Klaus-Peter Freitag | Waldorfschulen sind nur in Teilbereichen – insbesondere am Ende der Schulzeit – gezwungen, sich zu beteiligen. Die Kritik an den Verfahren und den dahinter stehenden Paradigmen ist berechtigt, darüber hinaus aber sollten wir uns fragen, wie wir den gestellten Aufgaben entsprechen können. Werden wir den Kindern im Übergang vom Kindergarten zur Schule gerecht? Haben wir immer ein realistisches Bild vom individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand jedes Kindes? Ist unsere Praxis beflügelt von geistigen Impulsen und der Liebe zu den Kindern? Wie kümmern wir uns um Kinder mit Migrationshintergrund, aus den so genannten bildungsfernen Schichten oder um solche, die einfach schwierig sind – die besondere Hilfe und Unterstützung benötigen? Haben wir ein Bild von dem, was ein ins Leben tretender junger Mensch braucht und können muss? Ich bin überzeugt davon, dass wir an vielen Orten bereits Hervorragendes realisieren und eigentlich auch alle Antworten finden können.
EZ | Zu den bildungspolitischen Maßnahmen gehören die Früheinschulung und die Schulzeitverkürzung. Passen sich die Waldorfschulen an oder gibt es Alternativen?
KPF | Waldorfschulen werden sich hoffentlich nie anpassen! Würden wir nicht mehr versuchen, unser eigenes pädagogisches Profil immer stärker und besser zu realisieren, wären wir keine Schulen der Zukunft mehr. Bildungsprozesse brauchen Zeit. Den Unsinn der unbedachten Schulzeitverkürzung müssen und werden wir nicht mitmachen. Trotzdem stellen auch wir uns der Frage, wie die Oberstufe neu zu greifen sei. Bei der Früheinschulung sind Sonderwege leider in machen Ländern aus rechtlichen Gründen schwieriger. Auch hier gibt es jedoch konstruktive Ansätze, im Sinne einer altersgemäßen Pädagogik angemessen mit den äußeren Notwendigkeiten zu leben. Die weit bedeutendere gesellschaftliche Aufgabe ist jedoch, insgesamt zu einem vom Kind aus gedachten Lern- und Entwicklungsverständnis zu kommen. Hier müssen wir die Anwälte einer recht verstandenen Kindheit sein.
EZ | Auch der »Input« muss stimmen. Wie kontrollieren Waldorfschulen die Qualität ihres Lehrpersonals und ihres Unterrichts?
KPF | Lernen und Lehren sind diffizile Prozesse, die sicherlich nicht nach standardisierten Verfahren überprüft werden können. Wir haben nur die eine Chance: Aus der Erkenntnis, die der einzelne Lehrer sich erarbeitet hat und aus dem Erkennen des einzelnen Schülers heraus, aus der authentischen Selbstentwicklung, aus der Haltung, dass einzig die Sache begeistert und motiviert, aus der Treue zu den Idealen und der unbeirrbaren Empathie für die Schüler zu unterrichten und zu erziehen. Dabei sollten wir uns gegenseitig stützen und helfen. Dass wir uns auch allen anderen Qualitätsansprüchen stellen, braucht nicht betont zu werden.
EZ | Wird es ein anerkanntes eigenes Waldorfabitur nach zwölf Schuljahren geben?
KPF | Nein, das Abitur ist ein staatlicher Abschluss, den nur der Staat vergeben kann. Wir versuchen jedoch, eine staatlich anerkannte, alternative Berechtigung für den Hochschulzugang zu entwickeln. Dabei kommt es uns weniger auf die formale Berechtigung an. Unsere Schüler sollten sich vielmehr tatsächlich Fähigkeiten aneignen und das ist eine Qualitätsfrage an die Schulen.
EZ | Waldorfschulen gelten als nicht leistungsorientiert. Trifft dieses Vorurteil zu?
KPF | Nein, ganz im Gegenteil. Neben den Leistungen in den üblichen schulischen Zusammenhängen erwarten wir auch in anderen Lebens- und Lernbereichen Entwicklung. Der dahinter stehende Leistungsbegriff orientiert sich allerdings am jeweiligen Vermögen des Einzelnen und nicht an einem abstrakten Durchschnittsmaß. Wenn man so will, geht es um die optimalen Möglichkeiten. Dabei ist uns, wie jedem pädagogisch Denkenden, klar, dass Entwicklung Zeit braucht und Schule gerade auch von den Fehlern und dem noch nicht Vollendeten lebt, sonst wäre sie nämlich überflüssig.
EZ | Was ist Ihre Vision für die zukünftige Waldorfschule?
KPF | Wir haben schon jetzt an vielen Stellen hervorragende Menschen, die Schulen gestalten. Es geht auch nicht um die zukünftige Schule, sondern um viele, die auf die jeweils konkreten Gegebenheiten und Menschen Antwort geben. Dabei wird uns alle das Vertrauen in unsere Entwicklungsfähigkeit und das, was Waldorfpädagogik leisten kann, verbinden. Auch wenn es an vielen Stellen Aufgaben gibt und wir uns vor Arbeit oft nicht retten können: in der Waldorfpädagogik liegen konkrete Möglichkeiten, die Not und Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Ich wünsche mir viele engagierte, idealistische und mutige Freunde, die mit Tatkraft unsere Schulen und die Bewegung weiterentwickeln. Dabei sollten wir uns immer stärker öffnen und den Dialog mit allen suchen, die an der menschengemäßen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen interessiert sind. Ich bin optimistisch, dass uns das gelingt!