Ausgabe 04/24

Was bedeutet Bildung heute?

Thomas Damberger

Schulen sind Bildungsinstitutionen, in denen es zentral um das Thema Lehren und Lernen geht. Die Kunst des Lehrens wird als Didaktik bezeichnet. Didaktik ist ein Begriff, der bereits in der griechischen Antike verwendet wurde, aber erst im 17. Jahrhundert durch Johann A. Comenius (1592-1670) an Popularität gewonnen hat. Comenius hat seinerzeit ein Buch mit dem Titel Große Didaktik verfasst und mit dieser Schrift den Anspruch verfolgt, allen Menschen alles vollumfänglich zu lehren. Religionszugehörigkeit, soziale Herkunft oder das Geschlecht spielten dabei keine Rolle. Was hingegen sehr wohl eine Rolle spielte, war das erklärte Ziel, das mit der großen Didaktik verbunden war. Der Mensch sei nämlich, so Comenius, durch den Sündenfall aus der Gemeinschaft mit Gott verstoßen worden und im Zuge dessen aus der Ordnung geraten. Er könne aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Welt um sich herum wieder in Ordnung bringen, wenn er nach den Gesetzmäßigkeiten lebt, die allem, was existiert, zugrunde liegen. Die Kunst des Lehrens zielt daher auf die umfassende Vermittlung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten ab, um durch Bildung zurück in die Gemeinschaft mit Gott zu gelangen.

Neben der Großen Didaktik hat Comenius unter anderem ein Schulbuch namens Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt) publiziert. Es besteht aus Texten und Illustrationen und wurde bis ins 19. Jahrhundert in Schulen eingesetzt. Während das multimediale Schulbuch zu Comenius‘ Zeiten durchaus ein Novum war, sind es heute digitale Medien, denen man zuweilen gar einen revolutionären Charakter unterstellt. Im Jahr 2020 formierte sich die Offensive Digitale Schultransformation, ein Zusammenschluss, bestehend aus 30 Organisationen. Dazu zählen unter anderem der Deutsche Lehrerverband, die Gesellschaft für Informatik und der Bundesverband Digitale Wirtschaft. Gefordert wird «eine gemeinsame sofortige Digitalisierungsoffensive von Bund, Ländern und Kommunen, die über die bisherigen Maßnahmen hinausgeht». Unausgesprochen geht mit der Forderung die Erwartung einher, dass der vermehrte Einsatz digitaler Medien die Wahrscheinlichkeit guten Unterrichts erhöhe. Guter Unterricht zeichnet sich jedoch nicht durch die Modernität des gewählten Mediums aus, sondern umfasst mindestens drei Kompetenzen: pädagogische Kompetenz, Medienkompetenz und Vermittlungskompetenz. Die pädagogische Kompetenz setzt das Aufbauen und Pflegen einer pädagogischen Beziehung voraus, einer wohlwollenden, liebevollen und fördernden Umgebung. In einer solchen Atmosphäre können mit der Zeit Potenziale im Kind aufscheinen, die von der Lehrkraft wahrgenommen und gespiegelt werden, sodass dem Kind seine ihm eigenen, zunächst aber unbewussten Möglichkeiten ins Bewusstsein gelangen können und anschließend an deren Entfaltung gearbeitet werden kann. Bei der Medienkompetenz geht es in Anlehnung an den Erziehungswissenschaftler Dieter Baacke darum, vier Dimensionen in den Blick zu nehmen: Medienkunde, also Ahnung von Medien zu haben; Mediennutzung, das heißt Medien in verschiedenen Kontexten einzusetzen; Mediengestaltung, sprich: sich selbst mithilfe von Medien auszudrücken, sich also in die Welt hineinbilden zu können, und Medienkritik, womit gemeint ist, auf Grundlage der Analyse von Vor- und Nachteilen ein begründetes Urteil fällen zu können. Die Vermittlungskompetenz zielt letztlich darauf ab, den Potenzialen des Kindes mithilfe der Wahl eines geeigneten Mediums zur Entfaltung zu verhelfen. Ein solches Medium kann ein Musikinstrument, der eigene Leib oder die eigene Stimme, Stift und Papier, Farben, Ton, Holz und in den höheren Klassen auch das Tablet und die Arbeit mit einer Künstlichen Intelligenz sein.

Seit Ende 2022 fokussiert die mediale Aufmerksamkeit das Phänomen ChatGPT. Der vom Unternehmen OpenAI entwickelte und von Microsoft mitfinanzierte Chatbot bietet zahlreiche, bislang in dieser Form nie dagewesene Möglichkeiten. Beispielsweise können Schüler:innen ChatGPT verwenden, um zusätzliche Informationen zu Lernthemen zu erhalten, um Fragen zu klären und Konzepte besser zu verstehen, um Fremdsprachen zu üben und ihre Fähigkeiten in der Konversation zu verbessern. Die durchaus anspruchsvollen Texte, die der Chatbot im jeweils präferierten Stil und Duktus generiert, sind allesamt Unikate, was bedeutet, dass sie von keiner Plagiatssoftware erkannt werden können. Die Reaktionen auf ChatGPT fielen daher sehr unterschiedlich aus. New York City und einige australische Bundesstaaten ordneten zunächst ein Verbot an öffentlichen Bildungseinrichtungen an, Italien hatte datenschutzrechtliche Bedenken. Aus der Geschichte der Pädagogik wissen wir allerdings, dass ein striktes Verbot neuaufkommender Medien auf Dauer wenig Sinn ergibt. Als Ende des 18. Jahrhunderts die Romane in Mode kamen, warnte man vor der Lesesucht, der Hysterie bei Mädchen und Frauen und der Verweichlichung bei Jungen und Männern. Mit dem Aufkommen des Films rund hundert Jahre später hieß es, Filme fördern aggressives Verhalten, sorgen für einen Verfall von Sitte und Moral und lenken die Jugend in eine Scheinwelt. Die Verbote der Vergangenheit führten indessen nicht dazu, die Jugend vor den vermeintlich negativen Konsequenzen der Medien zu bewahren, also musste sich die Pädagogik letztlich stets mit den jeweils neuen Medien befassen. Das wird bei ChatGPT vermutlich nicht anders sein.

ChatGPT bietet die Chance, die Frage nach einem pädagogischen Leistungsbegriff neu zu stellen. Bildung zielt, wie der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (1927-2016) zu betonen wusste, auf die Befähigung zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität ab. Die notwendige schulische Leistungsbeurteilung müsse demensprechend neu ausgerichtet werden. Nicht allein das Resultat, also der Output, sei entscheidend, sondern ebenso der Weg, der zu diesem Resultat geführt hat. Welchen Entwicklungsweg sind die einzelnen Schüler:innen gegangen, welche Rolle spielten Kommunikation und Kritikfähigkeit während des Lernprozesses? Klafkis Plädoyer für einen pädagogischen Leistungsbegriff begreift Lernen als ein lebendiges Geschehen und nicht als zu optimierendes funktionalistisches Prozedere. Die Waldorfpädagogik bietet hierzu einen interessanten methodischen Ansatz, auf den Rudolf Steiner 1919 in Stuttgart vor dem Kollegium der ersten Waldorfschule hingewiesen hat. Der Lehrstoff müsse in einer Weise vermittelt werden, dass er an das Leben der Schüler:innen anschließt, was nichts anderes meint, als dass das zu Lernende nicht nur wahrgenommen, sondern nachempfunden und empfunden werden soll. Dabei geht es nicht allein um ein kognitives Verstehen, sondern explizit auch um ein Berührtwerden, also um die seelische Dimension. Die Möglichkeit, jemanden in dieser Weise zu berühren, setzt wiederum eine Beziehung und gleichsam eine entsprechende pädagogische Atmosphäre voraus. Das, was nicht äußerlich geblieben, sondern nahe, vielleicht sogar unter die Haut gegangen ist, gilt es anschließend in einem zweiten Schritt gemeinsam aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren. Der von der Lehrkraft moderierte Austausch, ebenso die inhaltliche Analyse, stehen hierbei im Zentrum. Der dritte Schritt zielt dann darauf ab, sich ausgehend von der vorherigen gemeinsamen Arbeit einen lebendigen Begriff vom Unterrichtsgegenstand zu bilden.

Das Verführerische an ChatGPT scheint vor allem dort auf, wo der Unterricht funktionalistisch bleibt. Wird er hingegen in der skizzierten Weise mit Leben gefüllt, stellt Künstliche Intelligenz keine Gefahr, sondern vielmehr eine Möglichkeit dar, die Bildungsprozesse insbesondere in den höheren Klassen im Idealfall sogar befruchten kann.

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