»Brauche ich das fürs Abi?« Dieser Satz begleitete uns in den letzten drei Jahren ständig. »Nein? Können wir dann bitte weitermachen?« Gehetzte Schüler, genervte Lehrer. Druck, der Kreativität klein hält und eigene Interessen untergräbt. Was ist das Ergebnis? Punkte, Noten, Zahlen – das Abitur, Privileg und Status. Tausende werden zur selben Zeit über den selben Inhalt geprüft. Und wir sprechen von Vielfalt? »Es muss ja vergleichbar sein …« Es ist bekanntlich auch sehr sinnvoll, unterschiedliche Begabungen und Anlagen über einen Kamm zu scheren – damit sich alle Haare in eine Form fügen: Bulimie-Lernen, nicht nachdenken, Kriegspropaganda in Schulbüchern. Und wir träumen immer noch von einer besseren Welt.
Persönliche Visionen statt kontrollierbarem Wissen
Die Schule könnte das Fundament für eine verantwortungsvolle und friedliche Gesellschaft sein, in der jeder Einzelne in Freiheit leben kann. Warum wurde die Waldorfschule nochmal gegründet? Stattdessen werden wir auf Einzelleistungen geprüft: Wettkampf, Konkurrenz, Egoismus. Gerade in der Oberstufe wäre es wichtig, den Fokus auf Persönlichkeitsentwicklung, die nicht auf Selbstwertgefühl durch Leistung fußt, auf soziales Engagement, reflektiertes Denken und verantwortliches Handeln zu setzen. Wann, wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, bevor es in die Welt hinausgeht und sich das Bewusstsein von einer kleinen in eine große Welt wandelt und man im Stande wäre, erstmals das Gegebene kritisch zu hinterfragen? Doch wie können wir selbst die Schlüssel für unsere Türen finden, wenn uns in dieser Zeit Formeln und Lehrpläne auf eine geltende Lösung trimmen wollen? Wie soll man ein Gefühl für die komplexe Welt bekommen, wenn Prüfungsdruck einen am Diskutieren hindert? Wenn wir Waldorfschüler, die wir zwölf Jahre eine andere Bildung und Pädagogik genossen haben, am Ende dann, um eine Studienzulassung zu bekommen, wie »Nichtschüler« geprüft werden. Wenn durch diesen Weg waldorffremde Inhalte in die Oberstufe drücken, um schließlich doch noch Individuen vergleichbar zu machen, alles sorgfältig Gehegte zweitrangig und die Freiheit vollkommen untergraben wird. Man lehrt uns zehn Jahre diese Freiheit und verpasst dann die Chance, erlebbar zu machen, wie man mit ihr, als Individuum umgehen könnte. Dabei hat der Staat selbst schon mehrere eigene Bildungseinrichtungen mit unterschiedlichen Studienzulassungen geschaffen, für deren Gleichwertigkeit er sich einsetzt. Unser Staat, der aufgrund seiner Geschichte gar nicht anders kann, als alternative Schulen zuzulassen und zu fördern, ist auch verpflichtet, deren Abschlüsse gleichwertig zu behandeln. Warum haben wir dann noch keinen eigenen staatlich anerkannten Waldorfabschluss – gleichwertig zum Abitur? Die Politik fragt: »Was braucht die Wirtschaft?« Die Gesellschaft der Erwachsenen sagt: »Wir brauchen das Abitur, damit alles funktioniert, dass euer Verhalten kontrollierbar ist, dass ihr konsumiert und arbeitet, ohne zu hinterfragen.« Wir werden die Leidtragenden sein. Deshalb sagen wir: »Wir brauchen Vielfältiges, kreatives, flexibles Denken und inneres Feuer für persönliche Visionen, deren Umsetzung unser ganzes Engagement und Interesse verlangt und uns Erfüllung gibt, ethisches Bewusstsein für ein nachhaltiges Handeln.« – Was letztlich auch der Wirtschaft zugute kommt.
Die Schule hat auch die Aufgabe, uns darauf vorzubereiten, in der Zukunft mit Problemen, über die man heute nur spekuliert, selbstbewusst und ohne Angst vor Fehlern umzugehen. Es braucht eine Fehlerkultur. Unser Notensystem, das in der Oberstufe auch Einzug in die Waldorfschule hält, erzeugt Angst vor dem Begehen von Fehlern: denn Fehler = schlechte Note = Du bist weniger Wert. Diese »Gliederung« unterbindet jegliche Entwicklung. Vergleiche gehören abgeschafft. Schüler sollen aus Fehlern positive Energie ziehen, aus Kritik Ansporn erhalten, Probleme neu anzugehen. Wo werden uns Schülern für die neue kommende Zeit Alternativen geboten? Wo haben wir heute die Möglichkeit, das zu lernen?
Ein anderer Umgang mit Fehlern ist notwendig
Ende Januar 2016 fand die Delegierten-Tagung des Bundes der Freien Waldorfschulen in Augsburg unter anderem mit der Arbeitsgruppe über die Zukunft der Oberstufe an den Waldorfschulen statt. Es wurde über Unterrichtsqualität, Schülermitverwaltung und die Zusammenarbeit der Schulen diskutiert. Innenpolitisch top, außenpolitisch flop? Wo waren die Visionen, die Ziele und Ideen für die Zukunft der Waldorfschule und deren Oberstufe? Will man es hinnehmen, dass unsere Oberstufe immer näher an die der Staatsschule driftet, sodass man sich fragt, ob das Wort »frei« in dem Namen unserer Schulen noch eine Berechtigung hat? Wir hatten den Eindruck, dass unser Anliegen zwar mit großen Augen wahrgenommen, aber dann belächelt und unter den Tisch gekehrt wurde. Dabei sind die Visionen und Gründe für eine Waldorfoberstufe mit eigenem Abschluss nicht neu. Doch die Angst vor der Benachteiligung ohne ein allgemeingültiges Zertifikat ist bei Eltern und Schülern allgegenwärtig, sind ja die Entscheidungen, die mit Angst begründet sind, immer die erfolgreichsten und nachhaltigsten. Wofür man Abitur macht, ist erst mal egal, man braucht es, um akzeptiert zu werden. Klassendenken aus vergangener Zeit? Warum wirkt die Diktatur des Abiturs heute noch so durchschlagend alternativlos? Weil weder unsere Gesellschaft, noch die Mehrzahl der Hochschulen und Professoren die Vorteile eines vielfältigen Bildungswesens erkannt haben und nicht verstehen, dass es sinnvoller ist, den Menschen hinter der Note zu fördern, als die Note. Allerdings gibt es bereits einige Universitäten, Hochschulen und Unternehmen, die auf persönliche Einstellungsgespräche und Prüfungen setzen und sich aus der Vielfalt der Bewerber, die Geeignetsten aussuchen. Schaut man sich in Europa um, wird man feststellen, dass dort beinahe alle so agieren. Die Entscheidung, ob man für ein Studium an einer bestimmten Einrichtung geeignet ist, wird dort nicht von der Schule, sondern von der künftigen Bildungsstätte selbst gefällt. Schulen sollten lediglich Empfehlungen aussprechen, die gleichwertig anerkannt sind. Dass ein moderner Staat, der sich für sozial hält und jedem die freie Berufswahl garantieren möchte, das dreiteilige Schulsystem eigentlich nicht mehr verantworten kann, sagen auch einige Juristen.
So gibt es eine Menge vereinzelter Stimmen, die für eine Reform im deutschen Berechtigungswesen sind, mit denen sich die Waldorfbewegung verbünden und Lobby-Arbeit betreiben könnte. Das Abschlussportfolio oder das Steiner-School-Certificate sind erstrebenswerte Alternativen, die die wertvolle Waldorfschulzeit anständig abschließen könnten. Mit vereinten Kräften könnte man eine Arbeitsgruppe schaffen, bei der sich alte, junge, fachkompetente Menschen und die, die es werden wollen, treffen und gemeinsam für dieses Ziel eintreten. Hätte man uns beiden die Möglichkeit geboten, eine solche Aufgabe als Schulabschlussarbeit zu machen, hätten wir für unser künftiges Leben weit mehr profitiert und gelernt, als mit dem Stoff, der uns vom Kultusministerium vorgesetzt wurde. Dass eine solche Umstellung nicht bis morgen realisierbar ist, wird jedem klar sein, der das Glück hatte, in einer parlamentarischen Demokratie aufzuwachsen.
Aber umso wichtiger ist es, schon heute damit anzufangen, auf der Gleichwertigkeit und Anerkennung der Waldorfschulbildung in der Gesellschaft zu bestehen.
Mut zum Anderssein
Liebe Erwachsene, denkt zur Abwechslung mal an die, die nach euch kommen. Die Andersartigkeit unserer Bildungsinhalte und Pädagogik muss verteidigt werden, es ist unser gutes Recht! Die Politik steht in der Pflicht, alle ihre Kinder gleichwertig zu behandeln, weshalb sie dafür sorgen muss, dass sich daraus keine Benachteiligung für Waldorfschüler ergibt. Wovor also noch Angst haben? Es wäre doch schön, wenn zum 100-jährigen Bestehen unserer Schulen, eine Kampagne mit »Mut zu Waldorf« das Licht der Welt erblickte, damit nicht auch unsere Kinder einmal auf der Waldorfschule das Schwachsinns-»Abitur« oder andere staatliche Prüfungen durchleben müssen.
Doch eine Allgemeinbildung ist gut und wünschenswert, aber sind die heutigen Schulabgänger wirklich gebildet? Wie viel von dem, was man sich für die Prüfung angeeignet hat, bleibt und ist für das spätere Leben wirklich sinnvoll? Entscheidend ist, dass jedem Schüler ein Licht aufgeht, er plötzlich Dinge versteht, die vorher für ihn undenkbar waren. Lernen und Arbeiten machen nur dann Spaß, wenn sie durch Sinn begründet sind. Einzige Aufgabe des Lehrers ist es doch, dem Schüler individuelle Möglichkeiten zu bieten, seinen eigenen Schlüssel zu finden. Oder hört die Waldorfpädagogik mit der 10. Klasse auf?
Wir träumen von unserer persönlichen Prüfung, von Freiheit beim Lernen, von mehr gesellschaftlich relevanten Themen, Diskussionen, Philosophie und Politik in der Oberstufe. Wenn wir ab der 10. Klasse ein vielfältiges Angebot hätten, aus dem jeder Einzelne mit seinen wahren Interessen aussuchen und Neues entdecken könnte, dann wäre das für sein Leben mit Sicherheit von höherer Bedeutung, als die xte-Formel und der Lektürenschlüssel Y.
Die Welt ist doch viel zu vielfältig, als dass es klug wäre, wenn alle dasselbe lernten. Es sollte neue Formen des Lernens geben, es sollten Schüler von Schülern lernen – nicht in Form von aufgedrängten Referaten, sondern nach eigenen Interessensgebieten, in denen man wirklich etwas zu sagen und zu vermitteln hat. Mit Sicherheit würde dann mehr hängen bleiben und die Mitschüler würden einiges Neues von einander lernen.
Liebe Waldorfschulbewegung, lasst uns die Debatte über dieses Thema beginnen.
Zu den Autoren: Simon Marian Hoffmann und Jaron Götz waren Abiturienten an der Waldorfschule Filstal in Göppingen.