Es kommt sogar vor, dass neue oder unsichere Kollegen mit Rückendeckung ihrer Schulen auf staatliche Lehrwerke zurückgreifen. Wenn Eltern die Einführung von Lehrbüchern fordern, dann tun sie das aus dem Wunsch nach Sicherheit. Sie erhoffen sich eine garantierte Erfolgsquote durch systematisch aufbereitete Grammatikhäppchen und einen schrittweise wachsenden Wortschatz. Lehrkräfte mögen die Bücher begrüßen, weil sie etwas zum Festhalten bieten, der Unterricht ist vorgedacht und braucht scheinbar nur noch abgearbeitet zu werden. Was alle dabei außer acht lassen, ist die schlichte Tatsache, dass der Besitz und das Durchlesen eines Lehrbuches weder die Aneignung der aufbereiteten Inhalte garantiert, noch einen guten Sprachunterricht ersetzt. Lehrbücher ermöglichen es, die angebotenen Inhalte zu vergleichen, ein besseres Englischlernen garantieren sie nicht.
Der Unsicherheit muss anders begegnet werden. Lehrer müssen ihre Probleme verstehen lernen, müssen verstehen lernen, wie Fremdsprachenunterricht an einer Waldorfschule funktionieren kann und müssen befähigt werden, mit Unterstützung anderer Kollegen selber einen interessanten und lebendigen Unterricht zu gestalten. Die Anforderungen, die dabei an Waldorf-Sprach-Lehrer gestellt werden, sind sehr breit gefächert und gehen weit über gute eigene Sprachkenntnisse hinaus, denn guter Waldorf-Englischunterricht umfasst mehr als »nur« das Sprachenlernen.
Die Notwendigkeit des Lebenslernens
Ein wichtiges Anliegen der Waldorfpädagogik besteht darin, dass sie auf die Entwicklungsbedürfnisse der Schüler schaut, auf ihre expliziten und impliziten Fragen hört und danach die Pädagogik ausrichtet, anstatt vorzuschreiben, was junge Menschen denken, fühlen, können und werden sollen.
Natürlich brauchen junge Menschen Führung. Es handelt sich aber dabei um ein feinfühliges Führen und Wachsenlassen, zwei methodische Ansätze, die versuchen, sowohl die Bildsamkeit (das innere Streben zur Bildung) als auch die Selbstständigkeit anzuregen. Darüber hinaus sollten wir heutzutage vor allem ab der Mittelstufe das Prinzip des Lebenslernens vor Augen haben. Nichts tötet das Interesse Jugendlicher rascher ab als vorgegebene Themen, die auch noch von Anderen ausgedacht wurden! Die Schüler sollen selber die Themen, die sie interessieren, auch in der fremden Sprache recherchieren, besinnen, besprechen und präsentieren. Eine gewisse Ausnahme macht da natürlich die Literatur, obwohl auch dort die Schüler, je nach Alter, Motivation und Sprachkompetenz, an der Auswahl ihrer Lektüre beteiligt werden können. In unserer Schule in Elmshorn machen wir ab der 7. Klasse sehr gute Erfahrungen mit Leseprojekten, bei denen jeder Schüler selbst ein Buch auswählt, liest und darüber berichtet. Dabei geht es zum einen um die Motivation für das Lernen der Fremdsprache, vor allem aber um das Erlebnis, selber ein Buch von vorne bis hinten gelesen zu haben.
Die Widerstandskraft stärken
In der Waldorfpädagogik geht es auch darum, die Schüler salutogenetisch zu unterrichten, das heißt, die gesundheitsschaffenden Kräfte zu stärken. Der Unterricht soll die Schüler resilient machen. Resilienz ist die Fähigkeit, sich von Rückschlägen erholen zu können und positiv, konstruktiv und kreativ mit Problemen umzugehen. Das Leben verändert sich rasant und wird nicht unbedingt einfacher. Überall, wo es um Veränderung und um das Lösen von Problemen geht, sind Qualitäten wie Flexibilität, Lernfähigkeit, Kreativität, Mut, eine ethische Haltung, Teamgeist und Urteilsfähigkeit gefragt. Diese Qualitäten lassen sich nicht einpauken oder abfragen und erst recht schwer durch Noten quantifizieren. Auch als Fremdsprachenlehrer sind wir gefragt, für die Entwicklung dieser Qualitäten in unserem Unterricht einen Raum zu schaffen.
Sprachunterricht erfordert Mut zu kommunizieren
Ein wesentlicher Grund dafür, unsere Kinder auf die Waldorfschule zu schicken, liegt in unserer Erwartung, dass der heranwachsende Mensch in seinen Bedürfnissen Ernst genommen wird und eine Chance erhält, sein eigenes Potenzial zu entfalten. Diese Motivation steht für die meisten Eltern zumindest gleichwertig neben, wenn nicht sogar vor dem Wunsch, die Kinder mögen einen möglichst guten Abschluss erzielen. Der Fremdsprachenunterricht bietet die Möglichkeit, beide Ziele »unter einen Hut zu bringen«, solange wir uns durch vermeintliche Notwendigkeiten nicht den Blick auf das verstellen lassen, worauf es bei einem guten Sprachunterricht ankommt: mündliche Sprachkompetenz, Sprachkreativität und den Mut zu kommunizieren – Kompetenzen, die sich dann auch bei schriftlichen Prüfungsformen positiv auswirken. Ein lebendiger, interessanter und gesprochener Waldorf-Fremdsprachenunterricht ist die beste Voraussetzung für einen guten Abschluss. Um diese Art von Unterricht gestalten und überzeugend nach außen vertreten zu können, muss man aber wissen, was man tut.
Sensibilität und Toleranz für Ambivalenzen
Der Fremdsprachenunterricht bringt uns dazu, Respekt zu entwickeln für andere Lebensweisen. In unserer globalisierten Welt müssen wir lernen, uns auch andersartigen Menschen gegenüber zu öffnen. Das verlangt Selbstsicherheit, Sensibilität, Toleranz für Ambivalenz und nicht-selbstbezogenes Interesse. Deswegen muss Unterricht gesundend wirken, weil gesund sein heißt, frei zu sein. Salutogenese hat mit dem gesunden Menschenverstand zu tun. Salutogenese bedeutet in jeder Lebenssituation ein Kohärenzgefühl und einen Sinn in sich selbst finden zu können.
Der Unterricht zielt generell darauf, dauerhafte Haltungen und Fähigkeiten langfristig wachsen zu lassen, wie Selbstständigkeit, Interesse für den Anderen, Zuhören, Taktgefühl – das gilt auch für den Fremdsprachenunterricht. Nur wenn Kinder und Jugendliche das, was sie in der Schule erleben, als verständlich, handhabbar und sinnvoll empfinden, werden sie daraus ein Kohärenzgefühl entwickeln, das als Hauptfaktor einer salutogenetischen Entwicklung gilt. Das heißt, Unterricht soll in altersgemäßer Form immer wieder das Gefühl vermitteln, »ich kann es verstehen und wenn ich es jetzt noch nicht verstehe, dann erlebe ich, dass ich es verstehen könnte«. Die Erziehungskunst besteht darin, Lernsituationen zu schaffen, in denen die Schüler von sich aus solche Gefühle erleben können. Ziel des Unterrichtens ist es, den Schülern Aha-Erlebnisse zu ermöglichen, die sie innerlich berühren und bewegen.
Der Begriff »altersgemäß« spielt in der Waldorfpädagogik eine wichtige Rolle.
Worauf gründet sich die Entscheidung, was »altersgemäß« ist? Die Forschung zeigt, dass es das typische neunjährige Kind nicht gibt. Wir wissen heute, dass die Entwicklungsunterschiede von Kindern im Alter von fünf bis sieben Jahren, bei Kindern ohne Entwicklungsstörungen ein Spektrum von drei Jahren umfassen und bei 14-Jährigen sind Entwicklungsunterschiede von fünf Jahren normal. Wenn die Kinder innerhalb einer Klasse in ihrer Entwicklung variieren, was bedeutet dann altersgemäßer Unterricht? Und wie können wir Fremdsprachen altersgemäß unterrichten?
Die Antworten auf diese Fragen verlangen einen vertieften Umgang mit den Grundideen der Waldorfpädagogik. Sie setzen voraus, dass man die Bedeutung des Waldorflehrplans und der Entwicklungsgedanken Rudolf Steiners verstanden und sich ausführlich mit den Erkenntnissen der modernen Sprachforschung, der Entwicklungspsychologie und Anthropologie beschäftigt hat. Wenn wir das alles von unseren Fremdsprachenlehrern erwarten, dann müssen wir ihnen auch eine entsprechende Aus- und Weiterbildung ermöglichen.
Zum Autor: Martyn Rawson unterrichtet Englisch und Kunstgeschichte an der Freien Waldorfschule Elmshorn und ist in der Waldorflehrerbildung in Hamburg und Kiel tätig. Er ist Herausgeber des englischsprachigen Waldorflehrplans.