Erziehungskunst | Frau Seydel, den wenigsten Lesern der Erziehungskunst wird wahrscheinlich bekannt sein, dass die Praxis der Kinderbesprechungen schon seit langem an Waldorfschulen existiert. Was ist eigentlich eine Kinderbesprechung?
Anna Seydel | Eine Gruppe von Menschen möchte sich dem Wesen eines Kindes erkennend zuwenden. Man geht dabei von den Eindrücken aus, die man von diesem Kind hat, und reflektiert sie. Man wendet sich in der Regel Kindern zu, die Entwicklungshemmungen oder -störungen haben, oder die die Arbeit in der Klasse beeinträchtigen. Das sind zunächst äußere Anlässe. Man kann aber auch Kinder besprechen, die keine solchen Auffälligkeiten aufweisen. Durch das gemeinsame Anschauen gleichen sich persönliche Sichtweisen, Animositäten und Vorbehalte bei den Erziehenden aus. Alle möglichen Gesichtspunkte kommen zusammen und ergeben im Gespräch ein Gesamtbild.
EK | Im Grunde bemüht sich doch jeder Lehrer um eine solche Kindererkenntnis und versucht, sein pädagogisches Handeln danach auszurichten. Wozu benötigt man dann noch eine Kinderbesprechung?
AS | Zunächst deshalb, weil Entwicklung fast generell nicht mehr problemlos verläuft. Die äußeren Bedingungen des Heranwachsens sind teilweise dramatisch komplizierter geworden. Komplizierter sind auch die Familienverhältnisse von Heranwachsenden, die Beziehung des Lehrers zu sich selbst, zu den Kindern und die Zusammenarbeit mit Eltern und Kollegen geworden. Das kann dahin führen, dass ein Klassenlehrer zu der Überzeugung kommt, ein Kind in seiner Klasse nicht mehr tragen zu können, auch wenn es unter Umständen von anderen Lehrern oder den Eltern ganz anders gesehen wird. Eine Kinderbesprechung bietet die Chance, die Betrachtung des Kindes auf eine neue Ebene zu heben und die Einstellung zu ihm zu beleben, aufzuhellen und zu klären.
EK | Wie hat man sich eine Kinderbesprechung vorzustellen?
AS | Es gibt viele Formen. Ein Kind kann beispielsweise vom Klassenlehrer der Konferenz geschildert werden. Besser ist es aber, man nimmt das Kind selber wahr. Das kann in der Klasse sein: Man hospitiert zum Beispiel im Unterricht eines anderen Lehrers oder man beobachtet das Kind auf dem Schulhof. Als besonders fruchtbar hat sich erwiesen, eine Gruppe von Kindern in die Besprechungsrunde einzuladen und etwas berichten oder vorführen zu lassen. Da hat jeder Gelegenheit, das Kind, das besprochen werden soll, wahrzunehmen und es mit Gleichaltrigen zusammen zu sehen. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Lebendigkeit, Treffsicherheit und Vielfalt danach Wahrnehmungen zusammengetragen werden, die auch einen Klassenlehrer überraschen.
EK | Also am Anfang steht die Beobachtung?
AS | Ja. Dann folgt der Versuch, sich in das Kind zu versetzen, sich in das, was man bei ihm wahrnimmt, einzufühlen. Also nicht sofort zu Interpretationen oder Urteilen zu kommen, sondern sich mit dem Kind in Einklang zu versetzen.
EK | Noch einmal zur Beobachtung: Was wird da genau beobachtet?
AS | Die einen sehen mehr das Äußere des Kindes: das Gesicht, den Kopf, die Hände, die Arme, die Gestalt und seine Körperhaltung, alles, worin sich ein Kind leiblich ausdrückt. Dann gibt es das mehr Habituelle, das Gewohnheitsmäßige, wie ein Kind reagiert, ob es sich an etwas beteiligt, welche Neigungen es hat, welches Temperament. Ein weiteres Feld ist das Seelische: wie es sich denkend, fühlend und wollend in der Welt verhält, wie es sich in Kontakt zu anderen Menschen bringt, auch zu anderen Lebewesen. Das drückt sich auch in seinen Bewegungen, in seinem ganzen Verhalten aus. Schließlich gibt es den intentionalen, den Willensbereich. Wie geht ein Kind zum Beispiel bestimmte Aufgaben an? Wie werden Denkschritte vollzogen oder Arbeitsschritte individuell geplant und ausgeführt? Ein weiterer Aspekt ist das Schicksal eines Kindes. Es gibt signifikante, das ganze weitere Leben eines Menschen bestimmende biographische Ereignisse, Unfälle, Krankheiten, Todesfälle, Verlust der Heimat oder eines Elternteiles. Auch Einzelheiten des Geburtsvorganges gehören dazu.
EK | Es geht also nicht nur darum, das zu beschreiben, was man am Kind wahrnimmt, sondern auch andere Kenntnisse mit einzubeziehen?
AS | Ja. Da können einem die Berichte der Eltern eine große Hilfe sein. Aber immer geht es um Tatsächliches, nicht um Annahmen, Vermutungen, Interpretationen oder Theorien, sondern um Beobachtungen, um Wahrnehmungen.
EK | Worauf zielt dieses Sammeln von Tatsachen ab?
AS | Dass man in ihnen und durch sie das Zusammenhängliche erfasst: Das Wesen eines Kindes. Denn das Geistig-Seelische des Kindes selbst ist es, das die äußeren Tatsachen hervorbringt. Jede Einzelheit eines Äußeren ist Ausdruck des Wesens. Goethe spricht von dem »Auffinden eines prägnanten Punktes«, von dem aus sich einem das Wesen einer Erscheinung entgegenträgt, die Idee innerhalb eines sinnlich gegebenen Zusammenhangs.
EK | Wenn man diesen Punkt gefunden hat, versucht man dann die Eigenschaften des Kindes, sein Verhalten daraus zu erklären?
AS | Nein, es ist eher so, dass man etwas findet, durch das man sich gefühlsmäßig in das Kind hineinversetzen kann. Man versucht, mitzuerleben, wie es sich anfühlt, wenn man immer mit offenem Mund dasitzt und in die Gegend träumt. Dann bemerkt man, da sinkt einem immer etwas weg. Das ist es, was einen mit dem Kind in Zusammenhang bringt. Man muss es nicht gleich verstehen. Der Lehrer oder Therapeut muss die Verfassung des Kindes in sich erleben, das ist das Entscheidende.
EK | Es geht also um Einfühlung, Empathie?
AS | Ja! Es geht darum, zu erleben: Das Kind kann ich in mir fühlen, weil ich etwas in mir habe, das mir bei mir selbst bekannt ist, und das ich deshalb bei ihm wiedererkenne. Ich kann mir sagen: »Ich erkenne Dich, denn ich bin Du!« Dadurch sagt mir das Kind, wer es ist. Indem ich es erkenne, bringt es sich selbst in meinem Erkennen, in meinem Blick hervor. Es »wird« derjenige, den ich in ihm sehe. Und in meinem Blick schließlich erkennt sich jetzt das Kind, empfindet sich wahrgenommen, kommt zu sich selbst.
EK | Nun hat man diese Einfühlung, man empfindet sich wie das Kind. Geht man dann weiter zu einer Maßnahme, zu einer Entscheidung, wie man handeln soll?
AS | Nicht gleich. Erst geht der Strom des Interesses zum Kind, dann beginnt das Kind sich in mir auszusprechen. Jetzt antworte ich wieder, und diese Antwort ist eine Seelenantwort, in der ich den Ausgleich aufbringe zu dem, was ich beim Kind als seine Schwäche erfahren habe. Diese Antwort zielt darauf ab, ein Gleichgewicht herbeizuführen, etwas zu heilen. Man fühlt, ein Kind braucht stärkere Struktur, ein anderes Ermutigung. Das ist zunächst nur eine gefühlte Antwort. Im kollegialen Gespräch kann man dann nach und nach versuchen, herauszufinden, was eigentlich vorliegt. Was drückt sich darin aus, dass sich ein Kind gegen die Umwelt abschottet? Die Maßnahme ist gar nicht das Ausschlaggebende, sondern dass die Erwachsenen sich dem Kind zuwenden und durch ihre Aufmerksamkeit, ihr Interesse, ihre Wärme für das Kind erwachen. Wer nach einer Kinderbesprechung dem Kind begegnet, tritt ihm instinktiv mit einer anderen inneren Haltung gegenüber: Wenn ein Kind in seiner Haltung schlaff ist und mutlos, vielleicht gar hoffnungslos erscheint, wird der Erwachsene ihm vielleicht mit einer inneren Gebärde der Ermutigung, des Sich-Aufrichtens entgegentreten. Er sagt nicht: »Nun sei doch etwas mutvoller«, sondern er trägt ihm in seiner Haltung das Mutvolle, Hoffnungsvolle entgegen.
EK | Unabhängig von therapeutischen Maßnahmen ist also schon allein die Tatsache, dass man das Bewußtsein auf das Kind lenkt, von Bedeutung?
AS | Ja. Das wirksamste therapeutische Mittel, das wir haben, ist die Kinderbesprechung selbst. Was man dann konkret unternimmt, das geschieht automatisch, man überlegt nicht lange. Man rutscht gleichsam von selbst in eine therapeutisch wirkende Gegenbewegung zu einer wahrgenommenen Schwäche. Man entdeckt viele Möglichkeiten, durch den Unterrichtsstoff therapeutisch zu wirken. Einem Asthmatiker zum Beispiel habe ich damit geholfen, dass ich mit ihm täglich geflötet und ihm damit sein Ausatmen erleichtert habe. Nach ein paar Jahren hatte er sein Asthma überwunden.
EK | Wie wird das Kind weiter begleitet? Gibt es bestimmte Zeiträume, nach denen man sich wieder bespricht und das Kind erneut anschaut?
AS | Es ist natürlich sinnvoll, einem Kreis, in dem das Kind besprochen wurde, nach einer gewissen Zeit zu erzählen, was sich verändert hat. Und dann vielleicht nach einem Jahr erneut. Aber man kann auch erleben, wenn man ein Kind in der zweiten Klasse bespricht, dass man es in den folgenden Jahren nicht mehr zu besprechen braucht. Durch die Besprechung und die Art, wie die Lehrer danach mit ihm umgehen, stellt sich ein einigermaßen harmonisches Verhältnis des Kindes zu sich selbst ein. Und darum geht es eigentlich, dass das Individuelle des Kindes, das Geistig-Seelische, mit sich selbst ins Reine kommt.
EK | Gibt es Bedenken oder Probleme, die mit Kinderbesprechungen verbunden sind? Immerhin geht man auf sehr persönliche und intime Weise mit dem Kind um.
AS | Das Problematische liegt darin, dass man oft nicht so spricht, als wäre das Kind dabei. Man müsste sich stets bewusst sein, dass jedes Negativurteil eine Kränkung des Kindes darstellt. Es geht nicht um positive oder negative Urteile, sondern darum, dass das Kind sich in den Anwesenden auszusprechen beginnt. Manche haben ein Problem mit dem Sich-in-Einklang-Versetzen. Sie sagen: »Ich trete dem Kind dadurch zu nahe«. Eigentlich fürchten sie sich davor, sich selbst ein Stück weit zu verlassen und in etwas einzutauchen, was ihnen nicht so ganz geheuer ist. Wenn jemand das Wachstum einer Pflanze mitmacht, dann sagt er ja auch nicht, ich trete der Pflanze zu nahe. Und so versuchen wir, in der Individualgebärde des Kindes sein Wesen zu erkunden.
EK | Nehmen an Kinderbesprechungen auch Eltern teil?
AS | Wenn es geht. Ich befürworte, dass die Eltern beim Sammeln der Wahrnehmungen dabei sind. Ich habe viele Besprechungen im kleineren Rahmen mit Eltern gemacht. In eine Konferenz mit 50 Lehrern würde ich die Eltern nicht so gerne einladen, das würde die meisten überfordern, denn das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern ist tiefgründiger, vielschichtiger und sehr intimer Natur. Aus diesen Gründen ist es leicht störbar. Das würde ich nicht wollen. Ich würde das Kind immer mit den Eltern allein besprechen.
EK | Sollten die Eltern informiert werden, wenn eine Kinderbesprechung stattfindet?
AS | Unbedingt! Keine Schülerbesprechung, ohne den Eltern zu sagen, was wir versuchen wollen und in welcher Form. Und keine Schülerbesprechung, ohne danach den Eltern eingehend davon zu berichten.
Anna Seydel war lange Zeit Klassen- und Seminarlehrerin in München und hat vor kurzem das Buch »Ich bin Du – Kindererkenntnis in pädagogischer Verantwortung« veröffentlicht.
Das Buch kann bei www.waldorfbuch.de bezogen werden.