Bis vor kurzem war es für die meisten von uns unvorstellbar, dass es unmittelbar vor unserer Haustür in Europa Krieg geben könnte, dass ein souveränes Land einfach von einem anderen überfallen wird und Millionen Menschen innerhalb kürzester Zeit zur Flucht in Nachbarländer getrieben werden – überwiegend ältere Menschen oder Mütter mit Kindern.
Mit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine am 24. Februar ist dieser Alptraum Wirklichkeit geworden – fassungslos stehen Eltern, Lehrer:innen und Erzieher:innen vor den Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Wie kann ich auf etwas reagieren, das ich selbst kaum fassen und verkraften kann? Was sage ich den Kindern und Schüler:innen? Wie finden alle Orientierung in der Flut unerträglicher Bilder, die jeden Abend über die Bildschirme flimmern oder in den sozialen Netzwerken die Runde machen?
In dieser Situation haben die Oberstufenlehrerin Karoline Kopp (FWS Landsberg) und Franz Glaw (Lehrer an der RSS Mönchengladbach und Mitarbeiter am Tessin-Institut für Medienpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart) eine bemerkenswerte Initiative ergriffen. Zusammen mit Schüler:innen wurde ein Oberstufenforum zum Ukraine-Krieg auf die Beine gestellt – über Zoom konnten sich Schulklassen zuschalten und Fragen an Expert:innen zum Krieg stellen. Auch Menschen, die durch ihre Herkunft und Verwandte im Kriegsgebiet unmittelbar betroffen sind, wurden einbezogen: Vitalina Korzyukova, Schülerin in Mönchengladbach und Igor Ivanov, Ehemann einer Lehrerin an derselben Waldorfschule.
Dass Kopp und Glaw mit ihrer Idee auf ein breites Bedürfnis in der Waldorfschulbewegung gestoßen sind, zeigte die große Beteiligung von mehr als 140 Waldorfschulen, die zugeschaltet waren – eine Resonanz, mit der die beiden so nicht gerechnet hatten. »Wir schätzen, dass rund 5.000 Waldorfschüler:innen zugeschaltet waren«, sagte Karoline Kopp im Anschluss an die digitale Konferenz.
Was will Putin mit diesem Krieg erreichen? Gibt es noch ein Zurück? Warum ist von Nazis in der Ukraine die Rede? Warum widmen wir ihm so viel Aufmerksamkeit, wo doch in anderen Teilen der Welt ständig Krieg ist? Was kann man tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen und: Nutzt es etwas, der Gewalt Friedensdemonstrationen entgegenzusetzen? Das waren Fragen, die die Schüler:innen im Chat an die Expert:innen formuliert hatten. Zusammengefasst und vorgetragen wurden sie von Noel Norbron, Vorstandsmitglied der WaldorfSV. Zu den Expert:innen gehörten auch Prof. M. Michael Zech, Historiker und Politikwissenschaftler von der Alanus Hochschule und Lukas Mall, Notfallpädagoge der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners. Er ist aktuell an der polnisch-ukrainischen Grenze im Einsatz. Zu Beginn der Zoom-Konferenz gab es eine Schweigeminute, mit der der Opfer des Krieges gedacht wurde. Vitalina Korzyukova und Igor Ivanov schilderten, wie sie – obwohl man es habe erwarten können angesichts der russischen Truppenkonzentration an der Grenze – der Einmarsch in eine tiefe Schocksituation versetzt hatte, ausgelöst durch die Informationen von Freund:innen und Bekannten, die das Land nicht verlassen konnten. »Ich konnte zwei Tage lang nicht arbeiten, ich war in Gedanken nur bei meinen Landsleuten«, beschrieb Ivanov seine Seelenlage. »Ein Großteil meiner Familie ist noch dort, Onkel, Tanten, Oma – sie können nicht weg. In den Städten gibt es Hilfen, aber auf dem Dorf ist es ganz schwer«, schilderte Vitalina die Lage. Bisher hätten alle Glück gehabt, nicht von den Luftangriffen getroffen worden zu sein. Igor Ivanov überwand seinen Schock dadurch, dass er einen Hilfstransport organisierte, der auf dem Rückweg auch Flüchtlinge mit nach Polen nahm.
Zech gab in einem einführenden Beitrag einen Überblick über die Geschichte der Ukraine und ihre enge Verflechtung mit Russland und Weißrussland in einem kulturellen Raum. Daraus jedoch abzuleiten, dass die Ukraine kein Recht auf Eigenstaatlichkeit habe, sei ein Gedanke aus der Vergangenheit. Die heutige Ukraine sei ein »sehr komplexes Gebilde« mit einem Gegensatz schon zwischen dem Osten und Westen des Landes, einer Vielfalt mit sieben Sprachen und 23 verschiedenen Sprachgruppen. So seien viele Familien durch unterschiedliche kulturelle Zugehörigkeiten geprägt. Bis 2014 habe er, so Zech, diese Diversität immer als unproblematisch erlebt: »Es wurden gemeinsame Lieder auf den Waldorf-Fortbildungen gesungen, die ich besucht habe, die russische Sprache diente allen als Verständigung«. Mit der Annexion der Krim durch Russland und den Krieg im Donbass habe sich alles dann verändert, auch in der Waldorfschulbewegung in Osteuropa seien die Nationalitäten spürbar geworden. Deutlich wurde in der Zoom-Veranstaltung auch, dass im Urkrainekrieg nicht nur zwei Völker gegeneinander kämpfen, sondern dass es um weitreichende gesellschaftspolitische Zielsetzungen geht. »Putin kämpft an zwei Fronten, auch gegen sein eigenes Volk«, so Karoline Kopp.
Auch Zech unterstrich diesen Aspekt: Auf der einen Seite die Ukraine mit ihrer Diversität, ihrem Streben nach Offenheit, Pluralismus und Demokratie und auf der anderen Russland, wo Putin diese Bestrebungen in den letzten Jahrzehnten systematisch unterdrückt habe. »Das ist auch das, was uns an diesem Krieg so berührt: es geht um die Idee der offenen pluralen Gesellschaft, die wir auch haben und um die Frage: Darf man sein, was man will?« Zech erläuterte, dass diese gemeinsame Idee auch die Stärke der Verteidigung der Ukraine ausmache: »Die da eimarschiert sind, haben keine Idee, sie werden von einer Elite geschickt, die in einer unglaublichen Machtfülle herrscht«. Auch wenn man auf Seiten der NATO oder der EU Fehler in der Vergangenheit identifizieren könne: »Diese unglaubliche Aggression ist durch nichts zu rechtfertigen«, betonte Zech. Er verwies auch auf das Budapester Abkommen von 1994, in dem die Ukraine auf ihre atomare Bewaffnung noch aus Zeiten der Sowjetunion verzichtet habe und die beteiligten Staaten, darunter auch Russland, dem Land im Gegenzug seine territoriale Integrität garantiert hätten. Insofern sei es auch durchaus möglich, sich ein Urteil über den Ukrainekrieg zu bilden: »Man kann urteilen und denken«. Bei der Nutzung von Berichten Einzelner auf Youtube zum Beispiel sei immer zu fragen, ob das auch für die Allgemeinheit gelte. Insofern sei auch die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien mit heranzuziehen. Dort werde immer angemerkt, dass bestimmte Berichte im Kriegsgeschehen nicht zu verifizieren seien. In der Vermittlung von Urteilsfähigkeit sah Franz Glaw, der auch an der Freien Hochschule Stuttgart Medienpädagogik unterrichtet, eine wichtige Aufgabe der Waldorfschulen.
Zum russischen Argument, es handele sich in der Ukraine um Nazis, die man bekämpfe, erläuterte Zech, dass bei den Maidan-Protesten in Kiew 2014 auch Kampfverbände von Neonazis beteiligt gewesen seien, die es auch jetzt noch in der Ukraine gebe. »Aber sie haben bei einer Wahl in der Ukraine nie Stimmen erhalten, die Ukraine ist in keiner Weise von ihnen bestimmt«. Der Kampf gegen die Nazis sei in der russischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Identifikationsmerkmal, deswegen nutze Putin jetzt das Argument der Entnazifizierung. »Es ist ein Kampfbegriff, mit dem die russische Seite ihr Vorgehen zu rechtfertigen versucht«, betonte Zech. Lukas Mall von den Freunden der Erziehungskunst berichtete vom notfallpädagogischen Einsatz an der polnisch-ukrainischen Grenze, der den geflüchteten Familien helfen soll, traumatische Erlebnisse zu verkraften. Er erläuterte, wie Notfallpädagogik wirkt, die »Freunde« bieten dazu auch Fortbildungen für die Helfer vor Ort an. Eine Hilfsbereitschaft, wie sie dort an der Grenze und in der Westukraine zu beobachten sei, habe er »so noch nicht erlebt«. Hilfslieferungen von Deutschland aus seien wichtig, aber es müsse darauf geachtet werden, dass immer konkrete Ansprechpartner:innen in der Ukraine vorhanden seien: »Fragt jemand, den ihr kennt, welcher konkrete Bedarf wofür besteht und wo genau«.
Angesichts der großen Resonanz der Zoom-Veranstaltung am 15. März wurde von den Initiator:innen über eine Fortsetzung nachgedacht – auch angesichts der Tatsache, dass für sehr weitreichende Fragen wie die nach den Wirkungen der Friedensdemonstrationen gegen Gewalt oder nach den Kriegen im Rest der Welt die Zeit nicht ausgereicht hatte. Das schulübergreifende Oberstufenforum ist eine Initiative von Karoline Kopp (FWS Landsberg) und Franz Glaw (RSS Mönchengladbach), der Bund der Freien Waldorfschulen hat die Trägerschaft übernommen.
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