Vorstellung, Wille und Gefühl
Im zweiten Vortrag der »Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik« bespricht Steiner die Polarität zwischen der Vorstellungs- und Willenstätigkeit des Menschen. Diese Polarität wird heruntergebrochen auf die jeweils inhärenten und hierzu korrespondierenden Kräfte von Antipathie und Sympathie. Die zum Vorstellungspol gehörende Antipathie wird in einen unmittelbaren und weiterführenden Zusammenhang mit der Tätigkeit des Erkennens, des Erinnerns und des Bildens von Begriffen gestellt. Antipathie bedeutet hier also nichts Negatives. Vielmehr ist sie die elementare Kraft, die solche Tätigkeiten begleitet und ermöglicht. Zum Willenspol stellt Steiner die Kraft der Sympathie, die uns offen auf die Welt zugehen lässt und auch zur Entwicklung von Phantasie und Imagination führen kann. Die abgeschlossene Kopfform und das gesamte Nerven-Sinnessystem einschließlich des Gehirns werden dem Vorstellungspol zugeordnet, während das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem als leibliche Grundlage des Willenspols dargestellt wird. Als drittes und vermittelndes Glied zwischen den Polen Vorstellung und Wille wird das Gefühlsleben des Menschen betrachtet, das seine leiblichen Grundlagen im mittleren rhythmischen System, vor allem im Herz und in der Lunge hat.
Was nun den Wortschatzerwerb anbelangt, so wird man ihn wahrscheinlich zunächst dem Vorstellungspol zuordnen. Hat er nicht wesentlich mit dem Erinnern von Wörtern und entsprechend mit dem Gedächtnis zu tun? Das ist tatsächlich der Fall, insofern man die kognitiven Tätigkeiten des bewussten Erkennens, Lernens und Erinnerns von Wörtern in den Mittelpunkt stellt, beispielsweise beim Auswendiglernen von Vokabellisten. Dort werden jedem Wort der Fremdsprache durch Gleichsetzung eine oder mehrere Bedeutungen in der Muttersprache des Lerners gegenübergestellt.
Bei dieser Art des Vokabellernens haben wir es fast ausschließlich mit dem im Nervensystem verankerten Prozess der Erinnerung zu tun. Die mit dem Willenspol verbundene Gliedmaßentätigkeit mitsamt dem dazugehörigen Spektrum von Sympathie-Phantasie-Imagination wird wenig oder gar nicht aktiviert, ebenso wenig das Gefühlsleben und das dazugehörende rhythmische System.
Es ist evident, dass sich ein solcher, fast ausschließlich kognitiver Lernprozess grundlegend vom natürlichen Erwerb der Muttersprache unterscheidet. Jedes Kind erfährt und erwirbt den Wortschatz seiner Muttersprache(n) auf vielfältigste Weise konkret-situativ, gefühlsbegleitet und vor allem leiblich, im beständigen Tun und aktiven Austausch mit der Umgebung.
Die entscheidende Frage für die Fremdsprachendidaktik ist folglich, ob wir aus dem Prozess dieses natürlichen Spracherwerbs fruchtbare Ansätze für die Wortschatzarbeit in der Fremdsprache gewinnen können. Aus der Perspektive der »Allgemeinen Menschenkunde« wäre das gleichbedeutend mit der Frage, ob Gefühls- und Willensleben mit ihren jeweiligen leiblichen Grundlagen beim Wortschatzlernen nicht ebenso angesprochen und aktiviert werden können wie die Vorstellungstätigkeit.
Dreigliedriger Wortschatzerwerb
Schauen wir zum Beispiel auf den Wortschatzerwerb. Neben dem kreativen Schreiben und extensiven Lesen eröffnen sich besonders durch Schauspiel, szenisches Spiel und Prozessdrama im Vergleich zum herkömmlichen Vokabellernen ungeahnte weitere Aneignungsmöglichkeiten. Es wird sofort deutlich, dass hier etwas völlig anderes geschieht. Da eine künstlerisch-dramatische Arbeit grundsätzlich Handlungen erfordert, werden der Willenspol und das Gliedmaßensystem unmittelbar tätig. Mit dem Willenspol wird nach Steiner die Kraft der Sympathie aktiviert. Eine Rolle oder ein Drama zu spielen, erfordert auch Phantasie und Imagination. Der Spieler ist nicht mehr nur er selbst, die gesamte Situation unterscheidet sich grundlegend von der sonstigen »Realität«. Aber auch das Gefühlsleben wird in einem solchen künstlerischen Prozess aktiviert, nicht nur durch das Eintauchen in die eigene Rolle, sondern auch durch das Erleben der Mitspieler. Je intensiver man sich in ein Stück, eine Szene oder eine Rolle einlebt, desto mehr wird das Gefühlsleben, das heißt, das »rhythmische System« angesprochen, ja geradezu herausgefordert.
Was den Wortschatzerwerb während eines solchen Prozesses anbetrifft, so ist von zentraler Bedeutung, dass das Erlernen von Wörtern an sich gar nicht als Ziel im Vordergrund steht. Vielmehr ist dieses Erlernen und noch mehr das performative Umgehen mit den Worten eine künstlerische Notwendigkeit. Es ist Hauptbestandteil der gesamten Probenarbeit, die ihre »Früchte« dann möglicherweise in einer Aufführung zeigt. Nicht weniger entscheidend ist auch die Arbeit an Gestik, Mimik, Tonfall, Körperhaltung, alles wesentliche Elemente bei der Erarbeitung einer Rolle und dementsprechend auch bei der »Einverleibung« von Text und Wortschatz. Ein solcher künstlerisch angelegter Lernprozess betrifft übrigens nicht nur die Worte, die man selber spricht, sondern schließt auch die der Mitspieler ein. Auch diese lernt man ja im Verlauf der Arbeit verstehen und kann sie oftmals bald auch selber auswendig.
Embodied learning
Der gesamte Lernprozess innerhalb eines solchen Geschehens unterscheidet sich dementsprechend radikal vom Auswendiglernen einer Vokabelliste zu Hause am Schreibtisch oder vom mündlichen oder schriftlichen Abfragen derselben. Wortschatzerwerb findet nicht als Memorieren von Einzelwörtern statt, sondern immer im Kontext zusammenhängender Sätze, Gedanken und Handlungen. Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass eine Vielzahl von Forschungsergebnissen zeigt, wie durch die Einbeziehung von Gefühlswelt und Leiblichkeit – embodied learning – das Behalten von Wörtern und Wendungen in der Fremdsprache erheblich unterstützt wird.
Es geht also nicht um das einfache Verstehen und Erinnern eines Wortes und seine Bedeutung in der Muttersprache (»Übersetzung«) als Endziel des Wortschatzlernens, sondern um die erlebte Aneignung sprach- und kulturspezifischer Qualitäten und Resonanzen, die mit den Wörtern verbunden sind. Als Teil eines langfristigen Lernprozesses wird eine künstlerisch angelegte Wortschatzarbeit nicht nur zu einem viel reicheren und differenzierteren Wortschatz führen, sondern auch zu einer grundsätzlich anderen Auffassung des Fremdsprachenlernens überhaupt.
Hinweis: Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein stark gekürztes Kapitel aus dem demnächst erscheinenden Buch Zugänge zur Allgemeinen Menschenkunde Rudolf Steiners, hrsg. v. P. Lutzker, T. Zdražil, Stuttgart 2019
Literatur: M. Macedonia: Mit Händen und Füßen. In: Gehirn & Geist 1-2/2013, S. 32 ff.; M. Sambanis: Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften, Tübingen 2013