Gespannt blicke ich in die Manege der Waldorfschule Freiburg-Sankt Georgen und lasse mich in die Welt des Zirkus entführen.
Es duftet nach Popcorn und der Saal ist brechend voll. Die Zirkusband spielt, gemeinsam mit dem Publikum hebe ich ab und genieße das atemberaubende »Flug-Programm«.
In der Pause komme ich mit meiner Sitznachbarin ins Gespräch. Wir tauschen uns über unsere Erfahrungen aus. »Ich habe vier Kinder hier an der Schule und meine Jüngste hat sich immer ungern bewegt, bis sie im Zirkus dabei war. Zirkuspädagogik ist wirklich die wertvollste Arbeit überhaupt. Ich finde es einfach immer wieder toll, wie die jungen Menschen zusammenarbeiten und in so engen Kontakt miteinander kommen können«, schwärmt sie.
Auch die zweite Halbzeit schlägt uns in Bann. Beim Trampolinspringen geht ein Raunen durchs Publikum, denn ein Schüler springt so hoch und weit, dass er fast unter den Zuschauern landet. Tosender Applaus und euphorische Artisten, ein jubelndes Publikum – kurz ein gelungener Abend, der für mehr steht als eine gute Show. Er ist soziales Kunstwerk – Pädagogik und Kunst verschmelzen miteinander. Eine Lehrerin erzählt mir, wie beeindruckend sie solche Schülerzirkusse findet und meint: »Einen meiner Schüler, den ich in Latein unterrichte, habe ich beim Zirkus ganz neu kennen gelernt. In Latein bekommt er den Mund nicht auf, aber beim Zirkus – wow. Ich bin sein Fan«, sagt sie und lacht.
»Mir als Pädagoge ist immer besonders wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen Spaß an der Bewegung haben. Einige Schüler haben so auch für sich herausgefunden, wie es beruflich weitergehen soll. Manche hat das Zirkusfieber so gepackt, wie eine ehemalige Schülerin, die jetzt mit einem Zirkus durch Russland tourt,« erzählt mir ein Diplom-Sportlehrer und Dozent an der Pädagogischen Hochschule, der fast zwanzig Jahre ehrenamtlich leitend den Zirkus Rosado begleitete. Doch wie sieht Zirkus aus, wenn er nicht seit Jahren etabliert an einer Waldorfschule praktiziert wird? Wie entstehen zirzensische Projekte? Wie kommt es, dass eine Schule das »Zirkus-Fieber« packt?
Projekttage einmal anders
Eine Schule hat sich dafür entschieden, ihre Projekttage einmal ganz anders zu gestalten und macht eine Woche Zirkus. »Wie sollen die denn da nur hinauf kommen?«, meint eine Lehrerin besorgt, als sie vor dem Vertikaltuch steht, zwei Stoffbahnen, die von der Turnhallendecke bis zum Boden reichen. Ich erkläre Tricks und Kniffe und gebe Tipps für einen erfolgreichen Beginn. Schulzirkus soll ja schließlich in erster Linie Spaß und Lust auf Bewegung machen. Automatisch entwickeln die Schüler eine realistische Selbsteinschätzung, lernen ihren Körper neu kennen und entwickeln soziale Kompetenzen und Selbstwertgefühl. Denn im Mittelpunkt steht bei Zirkusprojekten das Miteinander, die Erlebnis- und Persönlichkeitsorientierung sowie der Lernprozess anstelle der Leistungsergebnisse. Wichtig ist, dass jeder seinen Platz findet und sich mit dem Projekt identifizieren kann. Es geht um einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem motorische, physische, soziale, sensible, kognitive, psychische und soziale Fähigkeiten gefördert und gefordert werden.
Nachdem ich am Tuch die ersten »Basics« erklärt habe, schaue ich bei der Akrobatik-Gruppe vorbei. Hier werden in der Gruppe Rollen geübt. Die Stimmung ist unsicher und verhalten. Auch die Lehrerin ist am ersten Tag unruhig und hat keine Vorstellung, wie aus einem wild zusammengewürfelten Haufen Schüler der ersten bis sechsten Klasse eine gute Akrobatik-Gruppe und vor allem eine gute Aufführung werden soll. »Es ist Montag, der erste Tag und die Schüler haben Zeit, sich auszuprobieren, für ihren Zirkusbereich ein Gefühl zu entwickeln.«
»Zirkus in einer Woche? Das geht doch gar nicht.«
Ich begleite mehrere Gruppen den Vormittag über und bin wieder einmal erstaunt, wie schnell Kinder lernen können. »Zirkus in einer Woche? Das geht doch gar nicht. Was sollen die Schüler denn da können?«, werde ich immer wieder gefragt. »Unglaubliches«, kann ich da nur antworten. Einfach genial, wie sich Schüler und Gruppen verwandeln und wie manch ungeahntes Talent entdeckt wird. Die Lehrerin der Akrobatik-Gruppe ist verzweifelt, sie hat mehrere Schüler in der Gruppe, die als sehr schwierig gelten, unter anderem auch Noa, der schon häufig negativ aufgefallen ist. Eine motivierte Mädchengruppe möchte lieber für sich sein und spaltet sich von den Jungs ab. Die Lehrerin ist ratlos. Was sie am ersten Tag noch nicht weiß, ist, dass sich ihr »wilder Haufen« zusammenraufen und eine super Nummer auf die Beine stellen wird. Sie weiß auch noch nicht, wie toll ihre Gruppe bei der Aufführung zusammenhelfen wird, wie die Großen sich um die Kleinen kümmern werden, wie reibungslos alles klappen und wie stolz sie sein wird.
Auch Zirkus braucht Regeln
Am dritten Tag stelle ich gemeinsam mit den Gruppen die Nummern zusammen. Am Ende des Schultages blicke ich in strahlende Kinder- und Lehreraugen und bin von der Präsentation genauso begeistert wie die Lehrerin. Noa findet es toll im Zirkus. »Viel besser als Schule!« meint er.
Doch bei den Tuch-Artistinnen wird eine Schülerin ausgegrenzt. Ich erfahre, dass Sara generell die Außenseiterin ist und sich im Schulalltag oft nicht in Gruppen einfügen kann.
Wie alle Gemeinschaften braucht auch der Zirkus klare Regeln. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen Kooperation und Erfolg beim Training für eine Zirkusnummer. Denn ein solches Projekt fordert einiges: Vom Vertreten eigener Interessen, Ausloten eigener Grenzen bis hin zum wertschätzenden Umgang miteinander und altersübergreifenden Kontakten. Schulfächer wie Musik, Deutsch, Biologie, Sport und Mathematik werden praktisch erfahren. Was kostet eine Eintrittskarte? Wie viele müssen wir verkaufen? Welche Musik passt zu welcher Nummer – was gibt es für unterschiedliche Musikrichtungen? Wie begrüßen wir unsere Gäste, wie spreche ich am besten vor dem Publikum? Was hat Balance mit dem Gleichgewichtssinn zu tun?
Schüler und Lehrer lernen gemeinsam
In der Backstage-Gruppe erstreckt sich die Bandbreite vom Popcornmachen bis zum Internetauftritt. Im Klassenzimmer herrscht emsiger Betrieb. Plakate werden gemalt, Interviews mit Schülern und Lehrern online gestellt und Bauchläden gebastelt. Die inhaltlichen Verknüpfungspunkte von Zirkus und Schule sind mannigfach und steigern die Motivation zu lernen, denn es wird erlebt, wofür man Erlerntes brauchen kann. Ein Schüler meint: »Wir wussten gar nicht, dass unser Lehrer so ein guter Clown sein kann.« Ich freue mich, dass nicht nur die Lehrer und Lehrerinnen neue Seiten an ihren Schülern entdecken, sondern auch anders herum. Der Kontakt zwischen Schülern und Lehrern intensiviert sich. Ganz neue Situationen treten auf.
Lehrer und Schüler lernen gemeinsam, lassen sich auf etwas Neues ein und entdecken ihre Persönlichkeit und die des anderen in einem ganz neuen Licht. »So eine tolle Woche hat man nur einmal im Leben!«, meint Lara aus der zweiten Klasse. »Ich hab so viel gelernt und es hat einfach so viel Spaß gemacht.« Auch Fabian aus der fünften Klasse meint: »Das war die coolste Woche! Ich war so gerne ein Clown, besonders als Floh-Dompteur.« Die Aufführungen rücken näher und auch die Lehrer bewegen sich aufeinander zu. »Das war harte Arbeit«, meint die Initiatorin des Projekts und erinnert sich an viele skeptische Kollegen, die keine Lust hatten, auch etwas von ihrer Freizeit zu investieren.
Manege frei für die Artisten
Es duftet nach Popcorn, die Kinder freuen sich auf ihren großen Auftritt, der sogar im Radio angekündigt wurde. Hinter der Bühne macht sich Lampenfieber breit. Die Kinder sind gespannt. Diese Spannung auszuhalten, mit ihr umzugehen und sie meistern zu lernen, das sind wesentliche Erfahrungen bei Zirkusaufführungen, die ihren Höhepunkt in der Manege in absoluter Präsenz erreichen. Rauschender Beifall, die Akrobaten bezaubern ihr Publikum mit einer flotten Nummer zu Samba-Klängen. Ihre Lehrerin ist begeistert und erleichtert: »Ich war mindestens so aufgeregt wie alle zusammen! Sie haben das wirklich unglaublich toll gemacht. Auch Noa habe ich mal ganz anders erlebt. Sehr rücksichtsvoll und hilfsbereit, das hatte ich gar nicht für möglich gehalten.«
Die Tuch-Gruppe hat inzwischen zueinander gefunden. Sara strahlt, gibt sogar das Kommando für die Verbeugung. Eine Mutter freut sich über dieses ausgefallene Projekt. »Ich finde Zirkus im Rahmen von Projekttagen viel besser als Wandertage. Der pädagogische Anspruch ist ein ganz anderer. Wahnsinn, was meine Tochter in dieser einen Woche alles gelernt hat und wie gern und viel sie von der Schulwoche berichtet hat. Es ist nur so aus ihr heraus gesprudelt!«
Immer wieder darf ich Zirkusprojekte begleiten und sehen, wie aus klassenübergreifenden Gruppen richtige Teams werden; wie sich ganz automatisch die Größeren um die Kleineren kümmern und wie aneinander gedacht wird, wie diskutiert und gemeinsam mit vielen Ideen eine Nummer entwickelt wird. Oftmals finden sich Schüler zusammen, die sonst nichts miteinander zu tun haben und haben wollten. Vorurteile lösen sich auf, wenn festgestellt wird, dass Sara doch gar nicht so eingebildet ist, sondern mich zuverlässig festhält. Vor allem die Extremsituation der Aufführung schweißt die Gruppen zusammen. Ein solcher Höhepunkt wirkt noch lange nach und die intensiven Gemeinschafts- und Erfolgserlebnisse sind ein wahrer Schatz.
Link: www.zirkusabeba.de