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Weltweit Waldorf – wo ist das Zentrum?

Sven Saar

Sollen die Oberuferer Weihnachtsspiele in japanischen Waldorfschulen aufgeführt werden? Wie verhält man sich als Mentor, wenn eine thailändische Kollegin fragt: «Was darf ich in der vierten Klasse außer der nordischen Mythologie noch erzählen?» Und macht es Sinn, wenn philippinische Kinder mit aus Europa importierter Wolle Strümpfe stricken (die dort niemand trägt), weil das eben für Fünftklässler auf dem Lehrplan steht?

In der ersten Phase der weltweiten Ausbreitung der Waldorfpädagogik haben erfahrene und weise Kolleg:innen aus Europa jahrzehntelang mit viel Überzeugungskraft ihre erprobte Praxis in Länder getragen, in denen sie bei den impulsierenden Eltern auf offene Ohren und Herzen und zupackenden Pioniergeist stießen. Waldorfschulen wuchsen schnell in Hauptstädten, mit einer enthusiastischen Klientel aus der gebildeten Mittelschicht und emigrierten Europäern, die hier vertraute Werte sowie einen international erprobten, am Kind orientierten Lehrplan vorfanden. Viele dieser Schulen führen heute erfolgreich zum Abitur, leisten eindrucksvolle künstlerische Arbeit und sind finanziell wie sozial stabil und etabliert. Und doch hört man in ihnen Fragen wie die obigen, die zeigen, dass sich dort arbeitende Menschen oft in einer Art Importkultur erleben und mehr oder weniger akzeptiert haben, dass das, was örtlich als Weisheit und Tradition lebt, dem europäischen Waldorfstil irgendwie unterlegen sei.

Mit der Frage, was denn authentisch Waldorf sei, beschäftigt sich unter anderem der Entkolonialisierungsimpuls: Auch in der politisch-kulturellen Kolonialphase des 19. Jahrhunderts waren nicht alle Europäer selbstherrliche Ausbeuter – manche von ihnen gingen mit aufrichtigem, aus ihrer Sicht ethischem Missionsbewusstsein in außereuropäische Länder und schufen doch viel Leid. Nun ist es höchste Zeit, diese Schäden aufzuarbeiten und auch bei Waldorf zu fragen: Bei all den bewundernswerten Pionierleistungen – was würden, was müssen wir heute anders greifen?

Ich arbeite als Mentor und in Fachkursen fast täglich mit Menschen in Asien und Afrika, die frische, authentische Impulse setzen wollen. Oft sind diese sozialer Natur: sie haben die Waldorfpädagogik in teuren Mittelklasseschulen kennengelernt und möchten sie nun Kindern zugänglich machen, deren Eltern sich hohe Schulgelder nicht leisten können. Meistens finden sich ein paar Freund:innen, mieten Räume und dann geht es los – das erinnert an die erste englische Waldorfschule, die 1925 in London mit sieben Kindern und fünf Lehrer:innen begann. Für eine Ausbildung fehlen oft Zeit und Geld – muss deshalb der Impuls einer menschenorientierten Reformpädagogik warten? Den Pionier:innen ist es oft sehr ernst mit der Waldorfpädagogik: sie wollen sie von innen verstehen, und nicht nur tradierte Werte und Praktiken übernehmen. Sie entwickeln Lehrpläne und Abläufe, die zu ihrer Kultur und dem 21. Jahrhundert passen und nicht mehr den Umweg gehen, an dem man sich in Europa noch vielerorts orientiert: «Was hat denn Caroline von Heydebrand dazu gesagt, was hat Steiner vorgeschlagen, was hat bei meinem Mentor vor dreißig Jahren in Stuttgart gut geklappt?»

Sicher ist es hilfreich, sich an guter Theorie und Praxis zu informieren – deswegen ist sie aber nicht automatisch übertragbar, vor allem, wenn man sich zeitlich wie räumlich in einem völlig anderen Zusammenhang bewegt.

Stattdessen gehen die neuen Pioniere direkt an die Quellen: Sie fragen nicht nur, was Steiner gesagt, sondern was er gemeint hat, und wie man das gegebenenfalls in lokale Zusammenhänge übersetzen könnte. So macht es beispielsweise auf der ganzen Welt Sinn, dass sich zehnjährige Kinder mit Haus-und Ackerbau beschäftigen, weil ihnen der Kompetenzerwerb in einer notwendigen Entwicklungskrise Stabilität verleiht. Das muss deswegen nicht, wie in Europa üblich, in die Bilderwelt der Hebräer oder des Mittelalters gekleidet werden, und schon gar nicht die vier Jahreszeiten der Nordhalbkugel voraussetzen. Am Äquator folgt die Landwirtschaft ganz anderen Rhythmen, und man muss seine Lehrpläne dementsprechend entwerfen.

Etwas Entkolonialisierung täte übrigens auch in Europa gut: Ist es wirklich noch angebracht, in der siebten Klasse von «Entdeckungsreisen» der Seefahrer zu sprechen? Es tut dem unzweifelhaften Mut eines Kolumbus ja keinen Abbruch, wenn man seine Reisen auch aus Sicht der karibischen Menschen betrachtet: Amerika, Afrika, Asien oder Australien mussten nicht entdeckt werden. Dort wohnten schon Leute, und sie hatten es nicht weniger gut miteinander als die Europäer:innen. Indien beispielsweise hatte im 16. Jahrhundert das höchste Bruttosozialprodukt der Erde, bevor die Portugiesen auf «Entdeckungsreisen» gingen und dem Wohlstand ein Ende setzten. Hochentwickelte Kulturen wurden aus der europäischen Sicht zu passiven Handelspartnern oder, schlimmer noch, zu Sklavenlieferanten.

Vielleicht überwinden wir auch endlich die gut gemeinten und dennoch fatalen Klischees: «Afrikanische Kultur» gibt es ebenso wenig wie afrikanische Musik, Sprache oder Politik. Auf dem Kontinent gibt es über 1500 Sprachen, 250 davon allein in Nigeria. Vereinfachungen und Oberflächlichkeiten («Afrikanische Häuser sind aus Matsch und Stroh gebaut», liest man in so manchem Epochenheft der dritten Klasse) sind das Ergebnis eines beschränkten Bewusstseins, das zu der Annahme verleitet, Europäer seien Afrikanern auf verschiedenste Weisen überlegen. Diese Vorurteile waren noch nie gerechtfertigt und sind heute, dank der vielen Menschen, die sich für ihre Überwindung einsetzen, auch gemeingesellschaftlich untragbar geworden. Diesen Entwicklungen darf die Waldorfpädagogik sich nicht entziehen - sie sollte vielmehr zu ihrem Impulsgebern gehören.

Die in der fünften Klasse oft vermittelte Idee, die menschliche Zivilisation habe sich von Indien aus Richtung Westen entwickelt, war immer schon zu linear, um auch nur annähernd zu stimmen, und doch wird sie nach wie vor gelehrt, oft von jahrzehntealten Büchern gestützt, die den eurozentrischen Mythos zu erhalten suchen, die alten Griechen seien die Krone der Zivilisation und wir Mitteleuropäer stünden in ihrer Nachfolge. Solche stereotypen, überholte Machtstrukturen verfestigenden Narrative sind nicht nur für Kinder in Japan, Peru oder Tansania unpassend: sie sind es auch – vielleicht noch mehr – für Kinder in Europa.

Soll man daher den Lehrplan abschaffen, das Kind mit dem Bade ausschütten? Manche Aktivisten in den USA verlangen, Kolumbus gar nicht zu erwähnen, weil er den Sklavenhandel überhaupt erst ermöglicht habe. In einer lebendigen Kulturlandschaft – und dieser rühmt sich die Waldorfwelt zu Recht – geht es nicht um Verbote oder Erlaubnisse, auch nicht um Rechthaben oder Verurteilen. Stattdessen forschen wir mit- und aneinander, wie wir uns so weiterentwickeln können, dass sich durch unsere Lehrpläne niemand ausgegrenzt oder bevormundet fühlen muss. Dabei leisten die neuen, außereuropäischen Waldorfinitiativen einen hervorragenden Beitrag, gerade weil sie die alten Zöpfe entweder noch nie gesehen haben oder als irrelevant ignorieren.

So profitieren deutsche Zweitklässler:innen von Erzählungen über heldenhafte Menschen aus der ganzen Welt, nicht nur der katholischen Heiligentradition. In der dritten Klasse lernen auch Kinder in arabischen und asiatischen Ländern das Alte Testament als ein Stück Weltliteratur kennen, in dem auf imaginative Weise der Entwicklungsweg vom Jäger und Sammler zur Sesshaftigkeit gezeigt wird. Fünftklässler:innen lernen an den bei ihnen wachsenden Pflanzen die Botanik, und die den Siebtklässler:innen erklärten Hebelgesetze sind überall auf der Welt die gleichen. Die Herausforderung in unserer schnelllebigen, vielvernetzten Zeit ist, ein regionales Bewusstsein zu entwickeln, ohne provinziell zu denken, und global zu fühlen, ohne dabei alle Werte zu verlieren.

Mit Hilfe ihrer Erziehung sollen sich Kinder gut verwurzeln können, Zugehörigkeit fühlen und Selbstvertrauen entwickeln, um sich dann ohne innere oder äußere Grenzen in der Welt zu bewegen. Das Zentrum der Waldorfpädagogik ist nicht in Europa, auch nicht auf einem anderen Kontinent: es liegt überall, lebt und entwickelt sich täglich in allen 40.000 Waldorflehrer:innen.

Sven Saar, *1966 war dreißig Jahre lang Klassen- und Oberstufenlehrer in England und Deutschland und arbeitet jetzt hauptberuflich in der Lehrer:innenbildung: als Gründer des Waldorf Institute in England, in Deutschland, Australien und vielen asiatischen Ländern. waldorfmodern.uk

Kontakt: sven@waldorfmodern.uk

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