Wenige Tage vor dem letzten Weihnachtsfest sah sich der Zentralrat der Juden in Deutschland genötigt, die in Deutschland lebenden Muslime vor der Pegida-Bewegung (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) in Schutz zu nehmen. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, warnte in der »Welt«: »Wir dürfen die Pegida-Leute auf keinen Fall unterschätzen. Die Bewegung ist brandgefährlich. Hier mischen sich Neonazis, Parteien vom ganz rechten Rand und Bürger, die meinen, ihren Rassismus und Ausländerhass endlich frei ausleben zu dürfen.« Was ist nur los im christlichen Abendland? Bei Demonstrationen gegen die israelische Regierungspolitik werden judenfeindliche Parolen verkündet, jetzt werden die Muslime zum Feindbild, die AfD wächst und gedeiht und sogar die brave CSU schlug sich, wenn auch nur für wenige Tage, auf die Brust und forderte, auf deutschem Boden solle gefälligst auch hinter verschlossenen Wohnungstüren deutsch gesprochen werden. Dass es bei unseren Nachbarn nicht viel besser aussieht, zeigt der Blick nach Frankreich, wo die rechtsradikale »Front National« als stärkste Partei aus der Europawahl hervorging.
Die europäische Geschichte der letzten hundert Jahre ist geprägt von Kriegen und Zusammenbrüchen, dem kollektiven Irrsinn des Nationalsozialismus, der zur Reinhaltung der Rasse Millionen von Menschen ermordet hat, von der kommunistischen Gleichschaltung im Namen des Materialismus, aber eben auch von der Idee eines geeinten Europa, der friedlichen Revolution in Ostdeutschland, der Solidarität zwischen Ost und West und keineswegs zuletzt von der Frauen-, Friedens- und Ökobewegung. Was uns in Deutschland unterwegs verloren ging, ist unsere Identität als Volk.
Vielleicht ist aber gerade dieser Verlust das besondere Geheimnis unserer Identität? Mit Kollektivismen jedweder Art sind wir noch immer gegen die Wand gefahren, oft mit lebensbedrohlichen Folgen für die, die nicht dazugehörten. Diese Lektion werden wir solange wiederholen müssen, bis klar ist, dass die Menschheit nicht mehr in Kollektiven, sondern nur noch in Gemeinschaften überleben kann. Kollektive uniformieren, Gemeinschaften individualisieren, erstere grenzen aus, letztere schließen ein: sie inkludieren.
Deutschland ist eine Rechtsgemeinschaft, die sich wehren muss, wenn sie bedroht wird. Das kann aber nur gutgehen, wenn sie ihre Heiligtümer schützt, statt sie preiszugeben. Am Anfang des Grundgesetzes steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Ist es am Ende das Geheimnis unserer Identität, dass wir die Würde des Menschen unter allen Umständen schützen müssen, um sie nicht wieder zu verlieren? Vielleicht sitzt der wahre Patriotismus ja im Himmel, weil unsere Würde dort auf beiden Seiten der Mauer verankert ist! Wir müssen nur die Tür entdecken.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)