Wenn Kinder schlauer sind als Lehrer

Wenzel M. Götte

Die Förderung der intellektuell schwächer Begabten und die besondere Zuwendung zu dieser Gruppe hat es an Waldorfschulen immer schon gegeben. Zu Steiners Zeiten wurden besonders zu fördernde Kinder in einer Hilfsklasse versammelt. Heute gibt es immer mehr Schulen, die sich an dem Prinzip der Inklusion orientieren und die dafür notwendigen Aufwendungen – personell und sachlich – leisten.

Das Spektrum der Begabungen ist aber nicht nur nach der Seite der Schwächeren offen, sondern auch in die andere Richtung. Die etwa 80.000 Waldorfschüler dürften zu einem Teil das Spektrum in die Richtung intellektuell Hochbegabter spiegeln, wie es in der Gesellschaft auch sonst zu finden ist. Eher kann man annehmen, dass der etwa 2,2 Prozent betragende Hochbegabtenanteil an Waldorfschulen sogar etwas höher liegt. Auch künstlerische Begabungen dürften überdurchschnittlich vertreten sein. Für die besonderen Bedürfnisse dieser Schüler hat sich Steiner ebenfalls eingesetzt. Er befreite etwa musikalisch besonders Begabte vom Unterricht, damit sie Zeit zum Üben hatten.

Es geht um mehr als »Humankapital«

Das Thema »Hochbegabte« wird zumeist eingeschränkt auf intellektuell Hochbegabte diskutiert. Weitverbreitetes Motiv: Wir müssen diese Hochbegabungen fördern, weil sie in der Zukunft den »Wirtschaftsstandort Deutschland« sichern können. Dieses Motiv aber – auch wenn es eine gewisse Berechtigung haben mag – führt zu einer verkürzten Sicht auf diese jungen Menschen. Und es hat zum Kern eine Sicht auf Welt und Mensch, die auf Konkurrenzdenken und Auslese beruht. Die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Andrea Brackmann bringt auf den Punkt, worum es auch in der Waldorfpädagogik geht. Bedenken habe sie, dass man »… offensichtlich darauf abzielt, nur die leistungsstarken, unproblematischen und angepassten Hochbegabten zu fördern … Was mir am Herzen liegt, ist nicht nur eine Veränderung der Lehrpläne oder die Einrichtung von so genannten D-Zugklassen, sondern eine Veränderung des Menschenbildes, das den Umgang mit Hochbegabten häufig prägt«. Um das Menschenbild geht es. Die Reduktion des Menschen auf den Aspekt seiner künftigen Brauchbarkeit in der Gesellschaft ist ein gravierendes Problem. Das Wort »Humankapital« entstammt diesem Geist.

Wenn es nicht eine Phrase sein soll, dass die Pädagogik eine konkrete Menschenkunde zur Grundlage haben muss, bedeutet das, ein Verständnis davon zu entwickeln, wer und wie diese Kinder und Jugendlichen eigentlich sind.

Ein wenig Phänomenologie

Schon im Kleinkindalter fallen sie oft durch vermehrte Wachheit auf. Sie wollen Kontakt, reagieren schnell und aufmerksam auf ihre Umgebung. Die Mienenspiele zwischen Mutter und Kind sind intensiv. Wenn die Kinder etwas älter sind, ist es die besondere Neugier, die auffällt. Alles wird verfolgt und erforscht. Das »Fragealter« ist, wenn die Erwachsenen darauf eingehen, ein Eldorado zur Welterforschung. Sie lernen rasch zu sprechen. Und hier gibt es schon etwas, was diesen Kindern manchmal Schwierigkeiten bereitet: Sie eignen sich bald die Sprache der Erwachsenen an. In der Schule kann das dazu führen, dass sie von den anderen gehänselt werden. Ihre Gesprächspartner sind daher oft Ältere oder Erwachsene, mit denen sie dann gerne Fragen besprechen, die über ihrem Altersniveau liegen.

Oft können solche Kinder, wenn sie in die Schule kommen, schon lesen und schreiben, weil sie es sich selbst beigebracht haben. In der Waldorfschule kann das gut gehen, wenn die dort angebotenen Geschichten und künstlerischen Tätigkeiten phantasievoll und lebendig sind. Sogar Märchen können sich Hochbegabte mit großem Vergnügen anhören, denn – anders als manchmal behauptet wird – sind sie oft sehr phantasievoll und leben intensiv mit Bildern. Die Schwierigkeiten, die mit ihrer besonderen Begabung zusammenhängen, liegen meist auf anderem Feld, wenn solche denn überhaupt auftreten. Da ist die besondere Sensibilität dieser Kinder, die auch in eine gewisse Empfindlichkeit übergehen kann. Auch die Lehrer können das zu spüren bekommen: »Ich finde das langweilig«, bekommen sie zu hören. Oder: »Könnten Sie das nicht so viel besser machen?« In der Regel aber sind die sozialen Fähigkeiten und die moralische Reife dieser Kinder eher weiter entwickelt als beim Durchschnitt.

Einige weitere mögliche Schwierigkeiten seien genannt. Die Schülerschaft in den Waldorfschulen entstammt zwar einer gegenüber den staatlichen Schulen gehobenen, mehr an Bildungsfragen interessierten Schicht. Dabei ist das Lerntempo an Waldorfschulen langsamer. Die intellektuell besonders oder hochbegabten Kinder verstehen schneller als der Durchschnitt und langweilen sich daher bei den vielen Wiederholungen und dem gemächlicheren Unterrichtstempo. Langeweile ist aber Gift für die seelisch-geistige und die körperliche Entwicklung – insbesondere, wenn die Pubertät kommt.

Umgang mit Hochbegabten

Die Frage ist, wie man mit solchen Kindern umgeht. Da gibt es das Kind, das schon in der zweiten Klasse seine Lehrerin beim Kopfrechnen korrigiert. Wie reagiert sie darauf? Ist sie gekränkt oder merkt sie, dass hier eine Begabung vorliegt, dass das Kind immer schneller rechnen wird als sie selbst und dass man solch ein Kind zum »Assistenten« ernennen kann, der im Unterricht mithilft? Leider kommt es vor, dass Lehrer nicht mit dem nötigen Verständnis auf diese Kinder reagieren. Das kann dazu führen, dass sich Kinder zurückziehen, sich nicht mehr beteiligen und schließlich in ihren Leistungen abfallen (»underachiever«).

Während die schnelle Auffassungsgabe, das gute Gedächtnis, das wache Interesse eigentlich beste Lernvoraus- setz­ungen sind, können gerade diese Begabungen auch eine Gefahr darstellen. Wenn sich bei Unterforderung das Gefühl einstellt, du musst ja gar nichts tun, alles klappt auch so, kann die Arbeitsfähigkeit und damit die Leistung bei höheren Anforderungen sinken. Es kann sich durch ein zu schnelles »Verstehen« auch eine gewisse Oberflächlichkeit einstellen.

Hier hat die Waldorfpädagogik vielfältige Möglichkeiten entwickelt, um fördernd zu helfen. Wenn für die ersten Jahre gilt, die Welt in ihrem Reichtum zu erfahren, sich einen Gedächtnisschatz an Liedern, Gedichten, Geschichten und Lebensgeschichten anzueignen, kann sich ein tief gegründetes seelisches Fundament bilden, das Weite, seelische Resonanzfähigkeit und ein moralisches Gefühl anlegt. In der ausgehenden Klassenlehrerzeit und für die Oberstufe ist ein Leitmotiv die Entwicklung der Urteilsfähigkeit. Das »Bilden« eines Urteils, nicht das »Fällen« von Urteilen.

Es ist notwendig, sich mit den Besonderheiten, den Bedürfnissen, mit dem Wesen hochbegabter Kinder zu beschäftigen. Aber nicht nur gelegentliche Fehler im Umgang mit ihnen sollten dazu Anlass geben. Die Methodik und Didaktik der Waldorfschulen ist auf zwei Säulen gestützt: zum einen auf die Erkenntnis der allgemeinen Entwicklungstatsachen und Entwicklungsaufgaben der Kinder und Jugendlichen; zum anderen darauf, sich in das Besondere des einzelnen Kindes und Jugendlichen einzufühlen, sein individuelles Wesen und seine Entwicklungsbedürfnisse zu erkennen.

Intelligenz und Intelligenzen

Was ist Intelligenz? Wie entwickelt sie sich? Was bedeutet sie für das Menschsein? In der Regel wird die mathematisch-logische (»kognitive«) Intelligenz als Kern der Intelligenz verstanden. Man kann diese aber auch als Teil einer umfassenderen Intelligenz verstehen. Intelligenz ist eine geistige Fähigkeit, die es ermöglicht, sich aktiv, bewusst und beweglich in die Zusammenhänge und Gesetze der Welt verstehend einzuleben und sich tätig in ihnen zu bewegen. Denkt man das durch, kann einem aufgehen, mit welch wunderbarer Fähigkeit man es zu tun hat. Und dass diese weit über das bloß »Kognitive« hinausgeht. Heute kennt man unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Intelligenz. So gibt es eine Bewegungsintelligenz, die es ermöglicht, sich in dem Rahmen der Raum- und Gravitationsgesetze geschickt zu bewegen, eine soziale oder eine musikalische Intelligenz u.a. Beim Tier haben wir es mit instinkt- und leibgebundener Intelligenz zu tun, die nicht oder nur in Graden frei gehandhabt werden kann.

»Hochbegabt« heißt, dass entweder einer dieser Aspekte von Intelligenz oder ein ganzer Strauß von »Intelligenzen« besonders ausgeprägt ist. Wenn Kinder mit solchen Fähigkeiten in die Schule kommen, sind Erzieher und Lehrer herausgefordert, diesen »Gaben« gerecht zu werden. Das ist nicht leicht. Aber – wie Steiner gelegentlich sagte – auch der einfachste Wecker kann einen Platon aufwecken.

»Enrichment« und »Akzeleration« statt Selektion

Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie man die Schüler bei diesem weiten Spektrum fördern kann. Einige plädieren für eine Homogenität der Lerngruppen: Begabte zu Begabten, Unbegabte zu Unbegabten. Daher gibt es »Sonderschulen« und »Hochbegabtenschulen« – hierzu gehören dem Anspruch nach die deutschen Gymnasien. Es herrscht das Prinzip der Selektion. Andererseits gibt es den Trend, solche Differenzierungen aufzuheben (»Inklusion«), weil Studien gezeigt haben, dass Lernschwächere schlechter lernen, wenn sie unter sich sind, während die anderen nicht schlechter lernen, wenn sie nicht nur untereinander sind.

Zwei Methoden der Förderung und verschiedene Kombinationen beider sind entwickelt worden: »Enrichment« und »Akzeleration«. Beim Enrichment wird der gewöhnliche Unterricht für die schneller Lernenden erweitert und vertieft. Bei der Akzeleration überspringen Hochbegabte ganze  Klassen oder sie lernen einzelne Fächer in höheren Klassen oder außerhalb der Schule. Für intellektuell Hochbegabte entstanden spezielle Fördereinrichtungen. Aus wohler­wogenen Gründen lehnen die Waldorfschulen das Prinzip der Selektion ab. Offen stehen aber all die Formen der individuellen Förderung, die mit den Begriffen Enrichment und Akzeleration verbunden sind. Und diese müssen undogmatisch genutzt werden.

Aus einer Beschäftigung mit dem Phänomen der Hochbegabung können praktische Anregungen hervorgehen. Dazu gehört, dass einige überlieferte Grundsätze, wenn sie Dogmen geworden sind, überwunden werden müssen. Kein Kind darf sitzenbleiben – selbst Steiner hat in einzelnen Fällen zugestimmt, dass Kinder eine Klasse wiederholen. Kein Kind darf eine Klasse überspringen – weil ja der ganze Lehrplan auf Altersstufen hin ausgerichtet ist. Auch hier hat Steiner in Einzelfällen anders entschieden. Der übergeordnete Grundsatz ist: Pädagogische Entscheidungen müssen aus der Wahrnehmung der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes heraus getroffen werden!

Tragen wir genügend Sorge für das Niveau? Nicht das langsamste Schiff kann hier die Geschwindigkeit des Konvois bestimmen. Damit stellt sich aber notwendig auch die Frage: Ist für die Förderung der Schwächeren gesorgt? Ein Übel ist es, wenn in einer Klasse die Stimmung überhand nimmt: Wer etwas leistet, ist ein Streber. Hier muss der Lehrer ein Klima schaffen, in dem Leistung, gleich welcher Schüler, freudig anerkannt wird.

Ein renommierter Waldorflehrer sagte mir einmal: »Die Waldorfschulen sind keine Intelligenzverhinderungsanstalten«. Man muss hinzufügen: Im Gegenteil, sie haben zur Grundlage eine Pädagogik, die alle körperlichen, geistigen und seelischen Anlagen in ihrem Zusammenklang entwickeln und fördern will.

Zum Autor: Wenzel Michael Götte war Klassenlehrer und Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Freiburg-St. Georgen und ist seit 1991 Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart – Seminar für Waldorfpädagogik.

Literatur: Heiner Barz, Dirk Randoll (Hrsg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. Wiesbaden 2007

Andrea Brackmann: Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel? Stuttgart 2010

Howard Gardner: Intelligenzen. Die Vielfalt des menschlichen Geistes. Stuttgart 2002; Wenzel M. Götte (Hrsg.): Hochbegabte und Waldorfschule. Stuttgart 2005