Clara Steinkellner | Herr Meyer, ihr »Offener Brief« hat uns bestimmt über zehn verschiedene E-Mail-Verteiler erreicht – wie kam es zu dieser Aktion?
Heinz-Dieter Meyer | Das war recht spontan. Im April 2014 gab es einen Kongress der American Education Research Association in Philadelphia. Da gab es ein Panel mit Andreas Schleicher, der ja die PISA-Studie entwickelt hat. In der Fragerunde habe ich ihn darauf angesprochen, ob ihm klar sei, wie weitgehend der Einfluss der OECD als Wirtschaftsorganisation und ihres sehr engen Begriffes von Bildung auf die nationalen Bildungssysteme eigentlich ist und welche demokratische Legitimation es dafür gäbe. Er meinte nur: »Wir liefern nur Informationen, was die Regierungen dann damit machen, damit haben wir nichts zu tun …«. Das hat mich nicht losgelassen, und so haben wir diesen Brief geschrieben, der dann in der Zeitschrift »Global Policy« und im »Guardian« veröffentlicht wurde.
Thomas Brunner | Gab es eine Antwort?
HDM | Die OECD hat eine ziemlich blasse Stellungnahme im »Guardian« veröffentlicht. Sie bestreitet, dass PISA die standardisierende Wirkung hat, die wir diesem Projekt ankreiden.
CS | Haben Sie die PISA-Studien seit ihren Anfängen 1999 verfolgt?
HDM | Mein Interesse an PISA entstand, als ich irgendwann festgestellt habe – ich mache ja hier vergleichende Bildungswissenschaften –, was in dem halben Dutzend Ländern, die ich verfolge, passiert: Überall war von PISA, PISA, PISA die Rede. Die Regierungen haben die PISA-Ergebnisse als pure Weisheit geschluckt und sofort angefangen, ihr Schulsystem entsprechend umzuändern, verbindliche Standards einzuführen und alles auf die outputorientierte, quantitative Methode umzustellen. Und irgendwann habe ich dann entschieden, dass es nicht geht, dass die OECD, die überhaupt kein Mandat hat im Bildungsbereich, zum globalen Bildungsministerium wird! Deswegen haben wir 2013 das Buch »PISA, Power and Policy« gemacht, das, glaube ich, das erste ist, das PISA als politisches und ideologisches Problem reflektiert.
CS | Sie haben bereits 1998 den Sammelband »Bildung und Zivilgesellschaft« herausgegeben, in Zusammenarbeit von deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern. Wie sind Sie auf dieses Forschungsfeld gekommen?
HDM | Mein Weg zur Zivilgesellschaft hat eigentlich sehr viel mit meinen Erfahrungen hier in den USA zu tun. Das war etwas völlig Neues für mich, dass die großen und bekannten amerikanischen Universitäten eben sehr wohl ohne den Staat auskommen.
Wenn man sich anschaut, wie die Universitäten in Amerika entstanden sind, dann sieht man: das sind private Mäzene gewesen, die sich mit führenden Wissenschaftlern zusammengetan und deren Pläne großzügig unterstützt haben. Die haben dann das Geld von den Carnegies und Rockefellers, Johns Hopkins, Ezra Cornell und Cornelius Vanderbilt erhalten, um diese Unis aufzubauen, da hat sich nie ein Staat eingemischt. Dass so etwas überhaupt möglich ist, dieses Erlebnis ist in gewisser Weise eine Aufforderung zum Umdenken, wenn man aus Deutschland kommt, wo der Staat überall drinhängt.
Aber es gab dann noch eine andere Erfahrung – ich hatte in Cornell eine Gast-Familie, die mit ihren beiden Kindern Homeschooling praktiziert hat. Am Anfang habe ich gedacht, wie kann das sein, wie könnt ihr zwei Eltern, die ihr ja auch noch andere Sachen zu tun habt, fähig sein, den Kindern die gleiche Bildung zu vermitteln wie so ein staatliches Schulwesen – aber natürlich geht das! Und oft sogar sehr gut. Eine erkleckliche Zahl von Heimschul-Schülern, die nie eine Schule besucht haben, landet sogar in Harvard und an andern Top-Unis. Diese Erfahrungen, dass durch Selbstorganisation von unten sehr viel im Bildungswesen möglich ist, haben viel zu meinem Umdenken beigetragen.
TB | Haben Sie sich auch mit bestimmten Vordenkern der Zivilgesellschaft befasst?
HDM | Ja, ich habe Tocqueville entdeckt, der ja ein Zeitgenosse von Karl Marx war, und seinen Klassiker »Demokratie in Amerika« – das ist eigentlich die Grundlage für die Theorie der Zivilgesellschaft. Tocqueville sagt: Die amerikanische Demokratie kann nur dann vital bleiben, wenn die freiwilligen Assoziationen ihre Rolle im Gesellschaftsleben beibehalten und ausleben. Also eine Demokratie kann nicht nur darin bestehen, dass man einmal in vier Jahren zur Wahl geht, sondern sie muss darin bestehen, dass Leute selbstorganisatorisch politische und soziale Leistungen erbringen, die sonst der Staat erbringen müsste.
Und das ist nicht nur deshalb wichtig, weil dadurch der Staat nicht alles machen muss, sondern das ist zugleich eine Schule für soziales und politisches Bewusstsein. Wenn man weiß, dass man Bildung selbst organisieren kann, dann weiß man auch, dass man andere Sachen selbstständig machen kann, dass der Staat sich dort nicht einmischen muss. Das hat mich dann dazu bewogen, die Zivilgesellschaft auch wissenschaftlich, soziologisch als potenziellen Verantwortungsträger im Bildungswesen zu untersuchen und ins Bewusstsein zu heben.
TB | Diesen Grundgedanken findet man auch bei Wilhelm v. Humboldt, der ja seine Universität in Berlin sogar bis in die Finanzen hinein selbstständig verwaltet wissen wollte …
HDM | Ja natürlich … Humboldt, der dem König schreibt, dass man so eine Stiftung schaffen sollte, damit die Uni unabhängig ist, und dem König nicht auf der Tasche liegt, … Leider kam es ja dann nicht dazu, weil dem König eine solche Universität zu unabhängig gewesen wäre. Hier wäre ein Alternativ-Pfad möglich gewesen, den wir in Deutschland nicht genommen haben.
Ein anderer USA-Bezugspunkt war eine breite Debatte um Vouchers – Bildungsgutscheine – und um Charter-Schools – Schulen, die vom Land oder Bundesstaat eine »Charter« erhalten, um ihnen – theoretisch – größere Autonomie zu gewähren. Beide Konzepte waren interessant, weil sie der einzelnen Familie größere Wahlmöglichkeiten in Sachen Schulbildung versprachen. Aber leider ist daraus nicht viel geworden, weil in beiden Fällen diese Instrumente von privaten, profitorientierten Unternehmen gekidnappt wurden. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Schulen, die waldorfpädagogisch arbeiten, haben eben nicht Eltern und Lehrer Schulen gegründet, sondern Unternehmen, wirtschaftliche Bildungsanbieter, die auch gleich damit werben, dass an dieser Schule besonders gute Ergebnisse in allen standardisierten Tests erreicht werden, aber natürlich auch, indem man schwächere Schüler hinausdrängt. Und da kam noch einmal anders der dringende Bedarf an mehr Zivilgesellschaft ins Spiel, denn dieses Konzept wendet sich ja genauso gegen Staatsdominanz wie gegen Marktdominanz.
TB | Im PISA-Brief sprechen Sie auch die wachsende soziale Ungleichheit an und stellen klar, dass auch das beste Bildungssystem diese Fragen nicht lösen kann …
HDM | Als ich 1983 in die USA kam, erlebte ich hier eine weitgehend intakte Mittelklassengesellschaft. Aber die Wirtschaftskrise 2008 und der Umbau im Bildungsbereich, den ich miterlebt habe, das war für mich eine radikale Kehrtwendung, die Eins-zu-99-Prozent-Ungleichheit, die unvermeidlich auch das Bildungswesen erfasst. Schulen werden zunehmend zu Anstalten für wirtschaftliche Privatinteressen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin überhaupt nicht gegen den freien Markt. Doch wir brauchen neue Formen der Vergesellschaftung, die keine Totalvergemeinschaftung darstellen, wie das der Sozialismus-Kommunismus wäre, die aber auch den Kapitalismus zähmen und durch zivilgesellschaftliche Mobilisierung in eine Balance bringen.
Clara Steinkellner und Thomas Brunner (www.freiebildungs-stiftung.de) haben Heinz-Dieter Meyer am 6. September 2014 in Albany, NY getroffen.
Links: https://albany.academia.edu/heinzdietermeyer | www.Oecdpisaletter.orghttp://schoolingtheworld.org