Das Thema der BERT 2017 weckt mein Interesse: »Kommunikation – Zukunft gestalten durch Begegnung«. Meine Gedanken laufen schon mal los: Kommunikationsmodelle, da muss ich mich einlesen. Begegnung? »Ich und Du« ist eine der bekanntesten Schriften des Religionsphilosophen Martin Buber. Und zum »dialogischen Prinzip« ein Seminar von Rudi Ballreich ... Doch ich will abwarten, was mir begegnet.
Der große halbrunde Bühnen-Saal der Überlinger Waldorfschule ist gut gefüllt. In der ersten Reihe sitzen die Menschen der ersten Stunde dieser Waldorfschule am Bodensee, die in den 1970er Jahren gegründet wurde. Die architektonische Ost-West-Ausrichtung des Gebäudes wurde bewusst gewählt und spiegelt die Polarität der damaligen Zeit – ein Aufgreifen des Impulses von 1917, als Russland und Amerika erstmalig auf der Weltbühne als Gegenspieler in Erscheinung traten.
Vortragsredner am ersten Abend ist Karl-Martin Dietz vom Heidelberger Hardenberg-Institut. »Dialogische Führung« und »Dialogische Kultur« sind sein Thema. Auch er knüpft an die 1970er Jahre an, beschreibt den beginnenden Bewusstseins- und Wertewandel und die zunehmende Individualisierung: Ich selbst muss alles entscheiden, jeder Prozess ist offen – eine Freiheit, aber auch Unsicherheit, die unsere viel stärker in traditionelle Strukturen eingebundenen Eltern und Großeltern so nicht erfahren haben. Heute verstehen wir die individuelle Begegnung als Keimzelle alles
Sozialen. Dietz fragt: Was muss passieren, dass wir uns als Menschen wirklich begegnen? Genügen Sympathie oder gleiche Meinungen als Voraussetzung? Welche Qualitäten der Begegnung sind notwendig? – Erstens »ganzheitliches Interesse«, zweitens »Verstehen«, bei dem man versucht, mit den Augen des anderen zu sehen. Aus dem gegenseitigen Verstehen kann als Drittes »Vertrauen« erwachsen. Die letzte Stufe nennt Dietz »Menschenwürde«: die Akzeptanz des Anderen, wie er ist. Doch es gibt »Ablenkungen« im alltäglichen Leben: Zweckorientierung, Instrumentalisierung, Vorurteile und Missionsdrang.
Sieben Minuten Wertschätzung
Am folgenden Tag musiziert der ganze Saal und wir – rund 300 Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer – werden »eingestimmt«: In Dreiergruppen beantworten wir uns gegenseitig die Frage: »Wie ist Kommunikation, wenn ich sie als hilfreich und wertschätzend erlebe, und wie kann ich meine Umwelt dazu einladen, auf diese Art mit mir zu kommunizieren?« Wir erleben: Sich sieben Minuten Zeit zu nehmen, beziehungsweise zu geben, kann bereits eine Erfahrung von Wertschätzung sein. »Das muss man aushalten, auch das Schweigen. Dadurch kommt es zu einem Verstehen, das so sonst nicht möglich ist. Man kommt tiefer, auf andere Ebenen der Kommunikation«, sagt Lion Talir vom Vorstand des Bundesschülerrates.
Dann folgen die Arbeits- und die Open-Space-Gruppen – letztere eine neue Arbeitsform, die bereits auf der Berliner BERT 2016 erfolgreich ausprobiert wurde.
Das Themenspektrum reicht von der »Philosophie der Freiheit« über »Asymmetrische Kommunikation und Machtstrukturen an Schulen« bis hin zur Forderung nach wertschätzender direkter Ansprache. Es gibt Gruppen zu mimischen, körpersprachlichen Kommunikationsformen, wie im »ursprünglichen Spiel« und im Tango-Workshop. Es gibt Angebote zur Eurythmie, zur Erlebnispädagogik, zur »Gewaltfreien Kommunikation« und zur Inklusion.
Das Besondere dieser BERT ist, dass die Klausurtagung der Landesschülervertretungen gleichzeitig stattfindet. 70 Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland bringen ihre Themen und Fragen mit ein. So wird die BERT 2017 zu einer gemeinsamen Kommunikationsplattform.
Aufschlussreich fand ich die in den Arbeitsgruppen erarbeiteten Übereinstimmungen in Fragestellungen und Zielsetzungen bezüglich der drei Säulen, die eine Schule tragen, sowie der zukunftsfähigen Weiterentwicklung der Pädagogik. Ich wünsche mir für die folgenden BERTs, dass dieser Gewinn des gemeinsamen »produktiven« und »empfänglichen« Dialoges aller schulischen Akteure erhalten bleibt, damit asymmetrische Kommunikation abgebaut und echte Begegnung möglich wird. Der Sonntag bietet als Abschluss und Ausblick der Tagung zum Thema »Zukunft gestalten durch Begegnung« viele Angebote zum Handeln: Vorgestellt werden die Notfallpädagogik der »Freunde der Erziehungskunst«, die Broschüre des Landesselternrates Berlin-Brandenburg zur Konfliktbearbeitung und das soziale Netzwerk für Waldorfschüler wal-di.com. Ein zentrales Thema ist das 100-jährige Jubiläum der Waldorfbewegung 2019, dessen Vorbereitung auf Hochtouren läuft und das weltweit gefeiert wird (www.waldorf-100.org). Dazu besonders eindrücklich ist ein Kurzfilm, der Bilder und Interviews aus Japan, Israel, China, den USA, Deutschland, Russland und Großbritannien zeigt.
Wir fühlen uns als Teil einer weltweiten Gemeinschaft, einer pädagogischen Bewegung im Aufbruch. Und nehmen mit, dass es hier wieder auf den Einzelnen ankommt: »Gemeinschaften müssen sich immer mehr auf die einzelnen Persönlichkeiten stützen. Hier ist Mut gefragt, sich gegen die Konventionen für das Richtige einzusetzen«, sagt Henning Kullak-Ublick vom Bundesvorstand.
Im Zusammenhang mit dem nahenden Jubiläum klingt eine neue Frage an: »Wie definiere ich mich als Mensch in diesem technischen Zeitalter?« Und: »Wie verstehen wir Menschsein in einer digitalen Zukunft?« Mit diesem Thema beschäftigt sich die BERT 2018, die vom 2.-4. März 2018 an der Freien Waldorfschule Darmstadt stattfinden wird.
Ich gehe nachdenklich nach Hause und frage mich »Wo in dieser Welt stehe ich? Wie definiere ich mich als Mensch? Jetzt? In der Zukunft?« Dann halte ich inne, spüre dieser BERT 2017 nach und trage das Licht und die Freude über die Begegnungen in mir und habe Lust, alles Mögliche auszuprobieren. »Wir können die Welt gestalten«, sagte mir Achim Däschner von der Open-Space-Gruppe »Klartext«, und genau das werde ich tun.
Zur Autorin: Inga Danielle Feger ist Oberstufenlehrerin für Deutsch und Geschichte und unterrichtet Deutsch in Integrationskursen. Sie ist Mitglied der ELKO der Überlinger Waldorfschule; ihre Kinder sind in der zweiten, sechsten und achten Klasse.