Waldorf erklärt

Wie Waldorfpädagogik lebendig bleibt

Manche Menschen lernen Waldorfpädagogik durch ihre Eltern kennen oder über die Schule, die sie besuchen. Andere entdecken sie als junge Erwachsene auf der Suche nach ganzheitlichen Antworten auf ihre Lebensfragen. Walter Hutter lernte die Waldorfpädagogik kennen, während er 48 Stunden lang in einem Lastwagen mit etlichen Waldorflehrer:innen nach Rumänien fuhr. Aus dieser Fahrt seien viele gute Ideen entstanden, meint er – wie zum Beispiel die, Waldorfpädagoge zu werden. Heute ist Hutter für die Ausbildung von Oberstufenlehrer:innen an der Freien Hochschule Stuttgart zuständig. Im Interview mit unserer Redakteurin Heidi Käfer spricht er über seine Arbeit und darüber, wie er junge Erwachsene wahrnimmt.

Erziehungskunst | Herr Hutter, wie können wir uns Ihre Verbindung zur Waldorfpädagogik vorstellen?

Walter Hutter | Die Waldorfpädagogik habe ich im Alter von 25 Jahren entdeckt. Dadurch bin ich bis heute meinem persönlichen Leitmotiv-Quartett treu geblieben:

  1. Waldorfpädagogik nach Innen – wie und wodurch lebt sie ganz konkret als produktive Fragehaltung in jeder einzelnen Schule?
  2. Waldorfpädagogik nach Außen – wie wollen wir verstanden werden?
  3. Der Blick von Außen – wie versteht man im öffentlichen Raum Waldorfpädagogik?
  4. Der Blick nach Außen – über den Tellerrand schauen, Zeitgenosse sein. Dadurch ist sie für mich keine wofür auch immer autorisierte Lehre, sondern stets lebendig.

EK | Was zählt bei der Ausbildung von Oberstufenlehrkräften zu Ihren Aufgaben?

WH | Ich leite die Oberstufen-Masterstudiengänge, die ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Zuge der Studiengang-Akkreditierungen maßgeblich weiterentwickelt habe – als postgraduales Studium etwa, aufbauend auf einem fachlichen Bachelor. Das geht in den Varianten Vollzeit und Teilzeit für alle Unterrichtsfächer der Oberstufe. Meine Lehrtätigkeit beinhaltet Themen wie Jugendalter, Jugendtheorien, Jugendpädagogik, waldorfpädagogische Grundlagen des Unterrichtens. Und als Mathematiker bin ich für dieses Fach durch alle Kurse hindurch fachlich und methodisch-didaktisch zuständig. Meine Arbeit und die der Kolleginnen und Kollegen sowie der Studierenden ist geprägt von einem beflügelnden Leitmotiv: Was tun wir gemeinsam für Schülerinnen und Schüler? Es gibt keinen davon losgelösten Selbstwert von Lehrer:innenbildung.

EK | Welche Fragen begegnen Ihnen gerade bei der Arbeit mit angehenden Pädagog:innen? Was bewegt sie?

WH | Gerade im letzten Jahr hat die verheerende Wirkung des Waldorf-Querdenker:innentums die Studierenden sehr bewegt. «Mit solch einem Gedankengut will ich nicht identifiziert werden», lautete die einhellige Position der künftigen Lehrerinnen und Lehrer. Davon abgesehen wollen die künftigen Lehrkräfte mit der Welt eine bejahende Verbindung eingehen. Das ist sehr augenfällig. Da herrschen ein hoher Idealismus und Positivität. Das ist eine für uns Dozentinnen und Dozenten sehr beflügelnde Situation. Die künftigen Lehrer:innen möchten wissen, wie sie ganz persönlich Lernprozesse anhand ihres Faches initiieren, wie entdeckender Unterricht ermöglicht wird, wie sie durch ihre pädagogische Tätigkeit Urteilsbildung fördern können. Die Pädagog:innen bewegt also vorwiegend die eigene Position in der Schulpraxis und das Erkennen möglicher Weiterentwicklungen eigener fachpädagogischer Fähigkeiten. Allgemein bemerkt man an vielen Stellen eine Art Rückschritt zum Erklären und Belehren. Die Waldorfschule hat sich schon seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, Anderes zu erproben. Martin Heidegger hat das einmal charakterisiert im Zusammenhang mit der Erkenntnisgewinnung: Der erste Schritt ist, dass etwas zur Kenntnis («in die Kenntnis») genommen werden kann, ich muss also irgendeinen Kontakt zu etwas aufbauen. Anhand dieses Kontakts lerne ich, mir selbst ein Urteil zu bilden. Darin liegt aber zugleich die größte Herausforderung.

EK | 2019 erschien Ihr Buch Zur Methode des Oberstufenunterrichts an Waldorfschulen. Darin stellen Sie Methoden aus einer erkenntnispraktischen sowie einer erziehungskünstlerischen Perspektive dar. Wie charakterisieren sich die jeweiligen Blickwinkel?

WH | In dem Büchlein sind zwei Reflexionsebenen interessant. Die erste ist, dass spezifische Fächer spezifische Lernmethoden nahelegen. Das erfordert eine genauere Analyse. Kurz gesagt: Ausgehend von einer Aktion des übenden Erprobens kann man zu einer theoretischen Haltung urteilsförmig gelangen. Die zweite Ebene ist, dass ein Lernprozess als Lebensprozess verstanden werden kann. Um dafür die notwendige Zeit und Tätigkeiten einzuräumen, müssen Erziehungskünstler:innen den Übergang von Handlungen zu Wissen als Prozess ernst nehmen und Unterricht gestalten.

EK | Gerade für junge Menschen in der Oberstufe ist das Thema Identitätsbildung sehr zentral. Welche Aufgaben erfüllt die Waldorfpädagogik dabei?

WH | Die Waldorfpädagogik hat über viele Jahre gezeigt, dass Identitätsentwicklung nicht nur ein soziologisches Phänomen ist, sondern im Schulalter auch anhand von forschender Verbundenheit mit Inhalten der Schulfächer gefördert wird. Lernen an und mit Anderen und geübte Urteilssorgfalt sind Basisfähigkeiten, die den Menschen in eine positive Lebensposition bringen, in der er grundsätzlich die Welt bejaht und darin wirksam werden kann. Identität ist immer Entwicklung, ist also dynamisch und in fortwährendem Entwurfsmodus.

EK | Was ist für junge Leute zwischen 14 und 19 Jahren heutzutage wichtig? Und was war schon immer wichtig für sie?

WH | In dieser Altersspanne erwacht die Fantasie hin zum eigenen Urteil. Die Weltverbundenheit wird Ausgangspunkt für Ideen und kreative Forschungsfragen. Phänomene verlangen nach Erklärungen. Das ist die explizite, aber auch verborgene Frage der Schülerinnen und Schüler nach Sinnzusammenhängen sowohl fachlicher als auch sozialer Natur. Darauf muss Pädagogik reagieren. Zugleich sehen wir hier eine große Herausforderung angesichts der Tatsache, dass heute die Welt den Jugendlichen nicht mehr als stabil und lebenslogisch gesetzt erscheint, sondern als mehrfach zersplittert, politisch inhuman sowie durchaus und akut Stress entfaltend. Jede Jugend schafft ihre eigene Generation. Die Erwachsenenwelt kommt an der Jugendwelt nicht vorbei. Das ist eigentlich ein alter pädagogischer Ansatz, der aber heute eine besondere Brisanz bekommt durch das Ganze, was man den Jugendlichen auflädt, allen voran die Klimafrage. Wir können und sollen von der Jugend lernen. Ich glaube, das kommt der Waldorfpädagogik entgegen, da hier vom eigenen Tun ausgegangen wird. Es ist nicht einfach in einer Welt, in der so viele Fragen an einen Jugendlichen gerichtet werden. Die Schule hat da die produktive Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich bestimmte altersgemäße Entwicklungsschritte auch vollziehen können.

EK | Warum entscheiden sich junge Menschen für das Abitur zur Regelschule zu wechseln oder generell die Waldorfschule zu verlassen? Was können Pädagog:innen dieser Tendenz entgegenhalten?

WH | Junge Menschen sind gerne dort, wo selbstwirksames Lernen praktiziert werden kann. Falls die Abwanderung, wie Sie andeuten, eine Tendenz sein sollte, müsste die Antwort der Waldorfpädagogik schlicht sein: Waldorfpädagogik. Die Lust am eigenen Lernen ist zu fördern. Einer meiner Schüler hatte in meiner Lehrerzeit einmal die Frage, ob die Regelschule vielleicht nicht besser für ihn sei. Ich empfahl ihm, einen Monat dort zu verbringen, was er auch tat. Danach kehrte er zurück und sagte mir, die Lernatmosphäre sei für ihn nicht offen genug, er bleibe gerne an der Waldorfschule.

EK | Vielen Dank für dieses Interview!

Walter Hutter, * 1964. Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Stuttgart und Tübingen, Promotion in Mathematik. Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Freien Waldorfschule Gutenhalde, seit 2009 Professor für Didaktik der Mathematik und Physik an der Freien Hochschule Stuttgart.

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