Wildtiere in der Kulturlandschaft

Anselm Fried

Wenn man in unserer mitteleuropäischen Kulturlandschaft unterwegs ist, kommt es nicht allzu oft vor, dass einem ein großes Wildtier begegnet. Steht dann aber einmal doch ein roter Rehbock in der Abendsonne am Waldrand oder springt einem ein junger Fuchs über den Weg, dann ist das ein besonderes Erlebnis. Man freut sich und denkt sich nicht viel dabei. Doch liest man aufmerksam verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, kann man bemerken, dass die Situation der Wildtiere nicht die beste ist. Man kann dort von großen Reh- und Hirschjagden zum »Schutz des Waldes« lesen oder, dass »Rehe den Wald auffressen«. Warum aber sollten Wildtiere ihren eigenen Lebensraum zerstören?

Die Landschaft bestimmt, was in ihr lebt

Wilde Tiere leben heute in einer vom Menschen gestalteten Landschaft. Sie haben aber über lange Zeit hinweg in einer vom Menschen unbeeinflussten Naturlandschaft gelebt. Man könnte auch sagen, in einem intakten Naturorganismus, da Tiere, Pflanzen, Klima und Landschaftsform wie Organe in einem Organismus zusammenleben. Dann kam der Mensch und begann, die undurchdringlichen Urwälder zu roden und Landwirtschaft zu betreiben. Eine Kulturlandschaft entstand.

Jede Veränderung der Landschaft, sei es durch das Klima oder den Menschen, verändert die Lebensräume der Wildtiere. Für manche positiv, für andere negativ. So lebten während der Eiszeit noch Schneehase und Schneehuhn in unseren Breiten und wanderten dann mit den Gletschern in die Berge zurück. Elch und Wisent zogen ihre Fährte durch die sumpfigen Urwälder. Als die Wälder gerodet und die Sümpfe trocken gelegt wurden, verschwanden auch diese zwei großen Huftiere. Die Jagd hat natürlich auch noch eine Rolle gespielt. Dafür bot die nun entstandene Kulturlandschaft Steppentieren, wie dem Feldhasen und dem Rebhuhn ideale Lebensräume; sie kamen aus den östlichen Steppen zu uns. Die Art der Lebensräume ist entscheidend dafür, welche Wildtiere in ihnen vorkommen, welche verschwinden und welche neu auftauchen.

Rehparadies und ein alternder Wald

Zur Zeit leben in Deutschland mehr Rehe denn je. Allein eine Million werden jährlich von Jägern erlegt, dabei werden die Rehe eher mehr als weniger. Es muss ihnen in der Kulturlandschaft also ziemlich gut gehen. Was ist der Grund dafür?

Spontan fällt einem das Fehlen der »Rehräuber« Luchs und Wolf ein, die hierzulande praktisch ausgestorben sind. Doch Forschungen, zum Beispiel in Slowenien, haben gezeigt, dass trotz der Wiederansiedlung des Luchses die Rehbestände weiter steigen können. Den Hauptgrund für die aktuelle Rehwildsituation entdeckt man schnell, wenn man sich die Lebensräume des Rehs in den Urwäldern anschaut. Dort lebten die Rehe immer in solchen Gebieten, in denen sich der Wald lichtete, also dort, wo es Grenzen zwischen Wald und Freifläche gab. Das waren zum Beispiel Sturm- und Brandflächen. Da solche Gebiete selten waren, gab es auch entsprechend wenig Rehe.

Die heutige Kulturlandschaft dagegen ist ein absolutes Rehparadies. Überall wechseln sich Wald und Feld ab und es gibt unendlich lange Ränder und Grenzen in der Landschaft. Zwischen Wald und Feld, Hochwald und Kahlschlag bringt zudem jeder Weg Grenzen in den Wald. Mit Sendern ausgestattete Rehe zeigten, dass genau diese Ränder und Grenzen beliebte Aufenthaltsorte der Rehe sind. Ein gutes Nahrungsangebot und die gute Übersicht werden Gründe dafür sein. Zudem bietet die Landwirtschaft Nahrung im Überfluss.

Andererseits können die sogenannten Wirtschaftswälder die hohen Wildbestände nicht beherbergen. Deshalb kommt es oft zu dem sogenannten Wild-Wald-Konflikt. Das bedeutet, dass hohe Wildbestände im unnatürlichen, düsteren Fichtenwirtschaftswald die wenigen nachwachsenden Laubbäume und sonstigen Pflanzen, die am Boden wachsen, so stark abfressen, dass sie praktisch nicht mehr nachwachsen, weshalb sich der Wald dann nicht mehr verjüngen kann.

Nun muss man dabei aber zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden unterscheiden, denn schließlich zählen Knospen, Blätter und Triebe ja zur Hauptnahrung der Rehe. Allerdings kann dieser sogenannte Verbiss der Pflanzen tatsächlich zur Artenverarmung führen, was sich dann wiederum bis auf die Singvögel auswirken kann. Man sieht an diesem Beispiel, wie alles in der Natur zusammenhängt. Eigentlich müsste dieses Problem Mensch-Wald-Konflikt heißen, denn schließlich hat der Mensch die »Holzäcker« ohne vielfältigen Bodenbewuchs angelegt.

Ohne Winterfütterung keine Rothirsche?

Eigentlich ist es ja schön, wenn es draußen kalt ist und hoch der Schnee liegt, den hungrigen Hirschen Heu, Silage und Apfelreste in den Wald zu bringen. Doch ist das Mitleid nicht das Hauptmotiv der Fütterung. Viele Jäger füttern mit dem einzigen Ziel, Hirsche mit möglichst großem Geweih zu »züchten«, das dann ihr Wohnzimmer schmücken soll. Förster führen oft an, dass gut gefütterte Hirsche den Wald nicht auffräßen. Doch leider geht diese Rechnung meistens nicht auf, wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben. Um die Futterplätze herum konzentriert sich das Wild so stark, dass die Zufütterung nicht ausreicht und das Wild die Umgebung kahl frisst. Wird der Winterengpass behoben, den natürlicherweise nur die stärkeren Tiere überleben würden, steigen die Wildbestände. So bewirkt die Fütterung genau das, was ökologisch gesehen vermieden werden sollte. Dennoch wird in Deutschland und Österreich fast überall gefüttert. Allerdings sind die Wälder dort vielfach so unnatürlich, dass ohne Winterfütterung kaum ein Rothirsch gut überwintern könnte. Anders ist es in Graubünden, wo es noch teils sehr gute Überwinterungsgebiete gibt, die vom Tourismus nicht gestört werden. Dort wurde die Fütterung praktisch abgeschafft und sachgemäß gejagt, mit dem Erfolg, dass es niedrigere, also natürlichere, dem Lebensraum angepasste Wildbestände gibt, die auch deutlich weniger Schäden im Wald anrichten.

Wildschweine in der Hauptstadt

Den Wildschweinen geht es in unserer Kulturlandschaft hervorragend. Sie breiten sich immer mehr aus und dringen bis in die Städte vor. So kennt mittlerweile fast jeder Geschichten von Wildschweinen in Berlin, die Vorgärten umpflügen oder die Mülleimer an Badeseen plündern. Vielerorts wie zum Beispiel in Rheinland-Pfalz gibt es wirklich zu viele Wildschweine. Dort wurde schon überlegt, das Militär zur Wildschweinbekämpfung einzusetzen. Einer der Hauptgründe für die hohen Bestände ist der Maisanbau, der seit 1950 um 3000 Prozent (!) gesteigert wurde. Zur Zeit werden zwei Millionen Hektar in Deutschland mit Mais bebaut, der sogenannte »Energiemais« spielt dabei eine große Rolle. In Teilen der Rheinebene sind schon 70 Prozent der Ackerfläche mit Mais bedeckt, der größtenteils für die Energiegewinnung verwendet wird. Ökologisch gesehen ist jedes konventionelle Maisfeld eine Katastrophe. Wie überall in der konventionellen Landwirtschaft wird extrem mit Chemie gearbeitet, die den Boden zerstört und das Wasser verschmutzt. Im Grunde genommen ist so ein Maisfeld eine Wüste, da dort nichts als Mais wächst. »Unkräuter« und »Schadinsekten«, die die Nahrung der Rebhühner wären, sind weggespritzt, sodass ein Maisfeld nichts anderes ist als eine »Wildschweinmastanlage«, in der sonst nichts lebt. Auch Eicheln und Bucheckern tragen dazu bei, die Wildschweine zu mästen. Je mehr davon im Herbst zur Verfügung stehen, desto besser sind die Wildschweine mit einem Fettpolster für den Winter gerüstet. In der letzten Zeit standen den Wildschweinen fast jährlich große Eichel- und Bucheckermengen zur Verfügung. Verantwortlich dafür ist vermutlich die Klimaerwärmung, ein hoher Stickstoffeintrag in den Boden sowie eine Reaktion auf Schadstoffe in der Luft. In jedem Fall stehen den Wildschweinen überall ungeheure Nahrungsmengen zur Verfügung, die sie radikal in Nachwuchs umsetzen! So kann der Nachwuchs eines Jahres 200 Prozent des Gesamtbestandes betragen, das heißt aus 100 Wildschweinen werden 300!

Ganz im Gegensatz zur Situation der Wildschweine steht die des Rebhuhns. Es konnte bei uns durch alte Bewirtschaftungsformen heimisch werden. Doch heute ist es durch die Industrialisierung der Landwirtschaft nahezu ausgestorben. Die kleinparzellige, vielfältige, alte Kulturlandschaft mit Brachflächen, Hecken und Wiesenwegen bot dem Rebhuhn ideale Lebensräume. Heute findet das Rebhuhn weder Brutplätze noch Nahrung. Fuchs, Mäusebussard und Krähe haben in der ausgeräumten Feldflur ein leichtes Spiel.

Jagen – nur ein Vergnügen?

Die Jagd hat heutzutage einen schlechten Ruf, da für viele Jäger die Jagd nur noch ein Vergnügen neben dem Golfspielen ist. Das eigentliche Ziel der Jagd, eine gesunde Natur in unserer Kulturlandschaft zu erhalten, gerät oft aus dem Blick. Doch genau für dieses Ziel hat die Jagd in unserer Kulturlandschaft eine entscheidende Bedeutung. Wir haben gesehen, dass die Reh-, Rothirsch- und Wildschweinbestände von außen kaum noch reguliert werden. Auch Selbstregulierungsmechanismen haben diese Wildarten praktisch keine. Eine sachgemäße Jagd ist also in vielen Fällen unbedingt erforderlich. Der springende Punkt dabei ist aber, dass die Jagd richtig ausgeübt wird. Kurz gesagt bedeutet dies, die richtigen Tiere zur richtigen Zeit und mit möglichst wenig Störung zu erlegen.

Mensch und Natur können harmonieren

Angesichts der Lage der Wildtiere in unserer Kulturlandschaft könnte man sehr traurig werden und den Eindruck gewinnen, der Mensch würde die Natur nur zerstören und alles aus dem Gleichgewicht bringen. Doch war das nicht immer so.

Wenn man sich vorstellt, dass ganz Deutschland mit dichtem Urwald bedeckt war, ist das in gewisser Hinsicht recht einseitig. Da hat das Roden der Wälder und das Kultivieren der Natur eine große Vielfalt und Abwechslung gebracht. Biologen haben herausgefunden, dass sich in den letzten 7000 Jahren die Zahl der Wildpflanzen mehr als verdoppelt hat. Dieser Artenreichtum wirkt sich auf alle Tierarten positiv aus. Der Mensch hat also in der Vergangenheit durchaus auch Gutes in der Natur bewirkt. Erst mit der Industrialisierung begann die große Naturzerstörung. Früher war die Kulturlandschaft noch ein intakter Organismus und die Menschen waren ein Teil davon. Sie lebten und arbeiteten mit der Natur. Die heutige Land- und Forstwirtschaft wirtschaftet hingegen meist gegen die Natur. Anstatt zum Beispiel Rebhühner die Insekten in den Feldern fressen zu lassen, verwendet man Insektizide, oder man legt Fichtenmonokulturen an, die den Boden zerstören und weder Käfern noch Stürmen standhalten. Eigentlich sind alle Monokulturen, die der Mensch geschaffen hat, etwas Krankes, seien es Fichten-, Mais- oder die dadurch entstandenen »Wildschweinmonokulturen« – aus dem einfachen Grund, dass sie auf Dauer nicht lebensfähig sind. Landwirtschaft, Forstwirtschaft und die Jagd müssen mit dem Ziel eine gesunde Natur zu erhalten, zusammenarbeiten. Demeter-Landwirtschaft und naturnaher Waldbau zeigen, wie erfolgreich man damit sein kann. Denn in einem gesunden, vielfältigen Wald, in dem richtig gejagt wird, kommt es lange nicht so schnell zu Wildschäden. Um die Natur, die unsere Lebensgrundlage ist, gesund zu erhalten, müssen wir auf eine neue Art mit ihr zusammenleben, wofür der Biologe Andreas Suchantke das Bild von der »Partnerschaft mit der Natur« prägte.