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Windrather Talschule erprobt seit 2020 ein neues Oberstufenkonzept

Daniel Bernards

Der Versuch, Inklusion im Alltag zu leben, war dabei immer schon ein Ringen um die richtigen und letztlich auch möglichen Wege. Deutlich wird das im Prozess und in den Überlegungen zur Oberstufe, die nun neu gegriffen wurden. Dabei erwachte das differenzierte, individualisierte, aber auch manchmal nicht einfach zu durchschauende Modell des Talkollegs wieder zum Leben.

Denn Inklusion als Selbstverständnis heißt nicht, dass sie stets und immer gelebt wird. Guter Wille garantiert nicht immer gutes Gelingen. Generell erwies sich seit den Gründungsjahren das Lernen in der Oberstufe als besondere Herausforderung. Die Gründe hierfür liegen unter anderem darin, dass das selbstverständliche kindliche Zusammensein zurücktritt und im Jugendalter das Abgrenzen in Cliquen, Peergroups oder unterschiedliche Interessen stärker hervortritt. Zudem spielt das Denken über die eigene Zukunft eine bedeutendere Rolle, einschließlich der Frage, welcher Schulabschluss samt zugehörigen Prüfungen angestrebt wird. In der Praxis wurde es vor allem dann schwierig, wenn in den kognitiven Fächern Prüfungsinhalte eingefordert wurden und die Schüler:innen mit besonderem Förderbedarf sich vernachlässigt fühlten oder gar tatsächlich, ohne böse Absicht, vernachlässigt wurden.

Nach der Einführung der zentralen Prüfungen in Nordrheinwestfalen für die mittleren Schulabschlüsse in Klasse 11 endete in der Windrather Talschule de facto das inklusive Modell. Ja, einige Schüler:innen konnten zusammen mit Neuankömmlingen umliegender Schulen ein Berufskolleg für Sozial- und Gesundheitswesen besuchen und es mit der allgemeinen Fachhochschulreife abschließen. Zudem wurde später noch ein Bildungsgang Ausbildungsvorbereitung gegründet – als Angebot für die Jugendlichen mit Förderbedarf oder diejenigen, die noch weiter Halt und Orientierung brauchen. In beiden Bildungsgängen, so die Erfahrung, ging es seitdem äußerst heterogen zu – jedoch war es kein gemeinsames schulisches Weitergehen mehr, trotz phasenweise gemeinsamer Unterrichte der beiden Lerngruppen. Und immer stärker formulierten Schüler:innen eine andere Frage: »Warum kann man bei Euch eigentlich kein (Voll-)Abitur machen?«

Die Antwort der Schule, das 2020 gegründete Talkolleg, dockt an ein ähnliches Oberstufenkonzept aus den Anfangsjahren an und stützt sich auf zwei Pfeiler, die sich nur scheinbar ausschließen: Individualisierung und Gemeinschaft. So schwer vom Organisatorischen das Konstrukt in die Tat umzusetzen war, so denkbar einfach ist die Grundidee: Die Jugendlichen suchen sich aus einem
größer gewordenen Angebot selbst ihre Lern- und Lebenswege, kommen zudem aber immer wieder als Gemeinschaft, zum Arbeiten und zum Austausch zusammen. Das geschieht vor allem in Klasse 12: Hier stechen das Klassenspiel, gemeinsame Epochen (Erziehungswissenschaften / Faust-Epoche / Wirtschafts-Epoche mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit) sowie die feierlichen Präsentationen der Jahres-Projekte hervor. Die Klasse 13 hingegen bietet dann wieder Raum zur Prüfungsvorbereitung in eher kleinen Lerngruppen.

Insgesamt bietet das Talkolleg der Windrather Talschule vier Zugangsmöglichkeiten an. Einerseits das Vollabitur nach zwei Jahren einschließlich einer zwölften Klasse, die auf die staatliche Prüfung vorbereitet. Alternativ ein sogenanntes »freies zwölftes Jahr«: In ihm setzen die Schüleri:nnen ihre eigenen Schwerpunkte, arbeiten an Projekten oder ziehen in die Welt. Bis auf die gemeinschaftlichen Epochen und das Klassenspiel gilt der Stundenplan hier nur als Angebot und kann auch ausgeschlagen werden. Weiterhin bestehen, als drittes und viertes Angebot, die beiden Bildungsgänge des Berufskollegs.

Das freie zwölfte Jahr erweist sich im laufenden Prozess als besonders spannend. Einblicke: Eine Schülerin forscht, schreibt und berichtet über das Schicksal von Julian Assange, einschließlich Besuche seiner Gerichtsverhandlungen in London. Ein weiterer Zwölftklässler arbeitete in der Domini­kanischen Republik, erkundete dort auch das Land seiner Herkunft und im vergangenen Jahr wechselte eine Schülerin aus dem Berufskolleg in die »freie« 12. Klasse, war kaum mehr in der Schule zu sehen. Stattdessen engagierte sie sich in umweltpolitischen Organisationen, zudem half sie auf Demeter-Höfen.

Gleichzeitig merken alle Beteiligten, dass es verlockend klingt, ein Schuljahr selbstständig zu planen und zu organisieren, viele Tücken aber in der Umsetzung liegen, manchmal schon in der Ideenfindung. Immer droht die Gefahr, dass das eigentlich »freie« Jahr am Ende ein »verlorenes« wird. Um so wichtiger sind regelmäßige Gespräche mit den Mentor:innen, den Klassenlehrer:innen – und generell eine intensive Betreuung.

Auch die gemeinsamen Epochen wollen den inklusiven Impetus aufnehmen und versuchen sich zu lösen von rein kognitiven, fachgebundenen Herangehensweisen. Die klassische Deutsch-Epoche der zwölften Klasse, in der sich die gesamte Gruppe Goethes Lebenswerk nähert, wird unterstützt durch Kolleg:innen aus Kunst und Eurythmie. Heißt, die Schüler:innen können den Zugang zu »Faust« auch dadurch finden, dass sie Motive in Bilder oder Szenen in künstlerische Bewegung um­setzen.

Den Beginn des Talkollegs bildete im September 2020 eine Themenwoche, hier ersetzt ein politisches oder gesellschaftliches Thema den gewohnten Unterricht, mit dem Schwerpunkt »Wir bilden die Gesellschaft.« Das Motto könnte auch als Antriebsfeder für das tägliche Miteinander gelten – zeigt es doch, wie wichtig soziale und inklusive Werte in einer komplizierten und oft unschönen Welt wirken können.

Daniel Bernards, *1974, ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften und unterrichtet seit 2013 an der Windrather Talschule.

bernards@windrather-talschule.de

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