Thomas Stöckli | Herr Hüther, wie ist es Ihnen in der Schule ergangen?
Gerald Hüther | In der ehemaligen DDR war alles sehr streng reglementiert. Ich ließ die Schule über mich ergehen und hoffte, dass sie bald vorbeigehen würde. Und trotzdem begegnete ich während dieser Zeit Lehrern, die mein Interesse an bestimmten Themenbereichen geweckt haben.
TS | Sie haben also in der Schule nichts gelernt?
GH | Im Leben zählt nicht das auswendig gelernte Wissen, sondern die Erfahrungen, die man sammelt. Wo sammeln Kinder und Jugendliche heute die entscheidenden Erfahrungen? Auf dem Spielplatz, im Zusammenleben mit den Eltern, bei der Bewältigung von Aufgaben mit Gleichaltrigen und nicht in der Schule.
TS | Was müsste sich ändern?
GH | Wir brauchen keine Gewächshäuser, sondern offene Schulen, in denen Leben stattfindet. Schulen, die der afrikanischen Weisheit gerecht werden, dass es für die volle Entfaltung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht. Schulen müssten Kindern und Jugendlichen die Lernerfahrungen ermöglichen, die man in einem Dorf sammeln kann – vor allem die Interaktion mit vielen verschiedenen Menschen, die nicht immer nur Lehrer sein dürfen.
TS | Wird das von der Hirnforschung bestätigt?
GH | Die erste wichtige Erkenntnis ist: Das menschliche Gehirn wird nicht durch genetische Programme zusammengebaut, sondern strukturiert sich im Laufe des Lebens aufgrund von Erfahrungen. Diese Erfahrungen beginnen viel früher als bisher angenommen. Die ersten neun Monate während der Schwangerschaft können als die wichtigste Lernperiode im Leben bezeichnet werden.
Später werden Beziehungserfahrungen in neuronale Netze verwandelt: Beziehungen zu frühen Bezugspersonen, zu Familienmitgliedern, zu Gleichaltrigen in Kindergarten und Schule. Dieser Prozess ist lebenslänglich; das menschliche Gehirn ist weitaus plastischer und formbarer als angenommen.
TS | Kann es ein Leben lang zu einer Umstrukturierung des Gehirns kommen?
GH | Ja. Einzige Voraussetzung für die Verankerung von Erlebnissen im Gehirn ist, dass Erfahrungen gemacht werden, die im Gehirn neuroplastische Botenstoffe freisetzen. Wenn diese Botenstoffe ausgeschüttet werden, öffnet sich eine »Gießkanne« mit den Wachstumsfaktoren, die eine Verankerung des Erlebten, des Gelernten im Gehirn ermöglichen.
TS | In welchen Situationen öffnet sich diese »Gießkanne«?
GH | Immer dann, wenn man sich für den Lerngegenstand begeistert, wenn das Gelernte bedeutsam erscheint, wenn man von Anderen zu neuen Lernerfahrungen eingeladen, ermuntert und inspiriert wird. Begeisterung ist bei der Formung des Gehirns ganz wesentlich. Deshalb ist die Wiederentdeckung der Begeisterung in der Schule eine wichtige Voraussetzung für die Schaffung eines veränderten Lernumfelds.
TS | Gibt es weitere Erkenntnisse?
GH | Genetische Programme stellen keine Vernetzungen her, sondern sorgen dafür, dass bei der Geburt das »Material« zur Verfügung steht, das für ein gutes Gehirn gebraucht wird. Genauso wenig wie die genetischen Programme wissen, wie viele Nervenzellen für ein Gehirn letzten Endes gebraucht werden, wissen sie, wie diese Nervenzellen vernetzt werden. Welche dieser Vernetzungsmöglichkeiten stabilisiert werden, hängt davon ab, welche Netze gebraucht werden und welche nicht. Bei Kindern, die viel fernsehen, wird das Fernseh-Netzwerk ausgebaut; bei Fußballspielern das Fußball-Netzwerk. Das Potenzial eines Kindes zum Zeitpunkt der Geburt ist viel größer als nach abgeschlossener Erziehung und Ausbildung. Aufgabe der Schule müsste daher sein, dieses Potenzial zu nutzen. Das heißt, im Kind Begeisterung zu wecken, sich Kulturgüter nicht nur anzueignen, sondern selbst einen Beitrag zu leisten. Mit zunehmendem Alter verlieren wir die Begeisterung, wenn uns etwas gelingt: Ein drei- oder vierjähriges Kind erlebt pro Tag vielleicht vierzig oder fünfzig Begeisterungsstürme, ein Jugendlicher hat vielleicht noch einmal pro Tag ein Erfolgserlebnis zu verbuchen, ein Mensch in der Lebensmitte einmal pro Woche. Ich rede hier nicht von einer kurzzeitigen Freude, sondern von echter Begeisterung, die die vorher angesprochenen Gießkannen öffnet.
TS | Wie ist es denn in fortgeschrittenen Alter, kann beispielsweise ein 85-Jähriger noch Chinesisch lernen?
GH | Vielleicht nicht in der Volkshochschule, weil dort das notwendige Ausmaß an Begeisterung fehlt. Wenn er aber mit einer 75-jährigen Chinesin nach China ziehen würde, dann könnte er nach einem halben Jahr Chinesisch.
TS | Stimmt es demnach, dass möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen förderlich sind?
GH | Kinder brauchen eine Lebenswelt, in der zwei Grundbedürfnisse gestillt werden: Sie müssen jeden Tag ein kleines Stück über sich hinauswachsen dürfen und spüren, dass in ihrem Umfeld Entfaltungsmöglichkeiten vorhanden sind, und sie müssen erleben, dass sie dazugehören, dass es Gemeinschaften gibt, in denen man geborgen ist. Wenn eine Komponente zu stark in den Vordergrund rückt, ist das für das Kind unbefriedigend. Dann kommt es zu Verunsicherung, zu Angst und Stress, weil die Erwartungen nicht eintreffen. Das Kind muss eine Lösung finden. Oft finden Kinder solche Lösungen in Form von Ersatzbefriedigungen: Computerspiele und Fernsehen befriedigen vorübergehend, aber weil die Kinder davon längerfristig nicht satt werden, brauchen sie immer mehr. Solche Kinder verlieren das Interesse an der Mitgestaltung der Welt und konzentrieren sich darauf, von dem wenigen, was sie gefunden haben, möglichst viel zu bekommen. Dabei blenden sie große Teile der Welt aus, verweigern sich vielem. Hirntechnisch kommt dabei eine kümmerliche Version dessen heraus, was hätte werden können.
TS | Woran erkennt man, ob eine Schule eine solche Lernumgebung bietet?
GH | Man erkennt sie daran, dass die Schüler sie so gern besuchen, dass sie traurig sind, wenn die Ferien beginnen.
TS | Das ist aber bei den wenigsten Schulen der Fall. Wie könnte man das Schulsystem verändern?
GH | Gegenwärtig wird versucht, mit dem alten System aus dem Industriezeitalter zurechtzukommen. Die Schüler werden entsprechend ihrer Leistungen auf die verschiedenen Schulformen verteilt, mit dem Ergebnis, dass am Schluss das herauskommt, was unter diesen Bedingungen auch nur herauskommen kann.
Die Schule in unserer Gesellschaft muss den Leistungsdruck und den Konkurrenzkampf schüren. Wenn Kinder konkurrieren müssen und Versagensängste geschürt werden, dann ist eine Schulkultur, wie ich sie mir vorstelle, gar nicht möglich. Bei den Schülern findet dann ein Rückfall in archaische Notfallprogramme statt: Sie interessieren sich nur noch dafür, wie sie durch die Schule kommen. Begeisterung, Entdeckergeist und Gestaltungskraft kommen dabei abhanden.
TS | Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?
GH | Man müsste den Druck aus den Schulen nehmen – Noten abschaffen – und die Schüler zum eigenen Entdecken und Gestalten animieren. Dazu bräuchte es Lehrer, die sich nicht als Dienstleister verstehen, sondern als pädagogische Führungskräfte. Sie bräuchten die Fähigkeit, ihre Schüler einzuladen, zu ermutigen, selbst neue Lernerfahrungen machen zu wollen. Ein Lehrer, der mit Schülern keine persönliche Beziehung aufbauen kann, kann sie schlecht animieren. Damit man als Lehrer den Schülern Mut machen kann, muss man selbst mutig sein. Viele Lehrer sind mutlos geworden im Routinebetrieb der Schule.
Als Lehrer müsste man in der Lage sein, die Schüler zu begeistern. Ein Lehrer sollte nicht von Mathematik an und für sich begeistert sein, sondern von der Möglichkeit, seine Schüler für Mathematik zu begeistern. Das ist eine ganz andere Art von Begeisterung, und diese haben nur sehr wenige Lehrer und sie lässt sich, fürchte ich, auch nicht in einem fünfjährigem Hochschulstudium erlernen.
TS | Müssten nicht nur die Lehrer, sondern auch die Eltern umdenken?
GH | Selbst wenn sich das alles umsetzen ließe, würde das Unterfangen ohne einen Gesinnungswechsel bei den Eltern nicht gelingen. Viele Eltern haben ihre eigenen negativen Erfahrungen mit der Schule gemacht und glauben, ihre Kinder müssten nun dieses Negative auch erleben. Zudem schieben viele Eltern die Erziehungsverantwortung auf die Schule ab. Die Schule ist nicht der Raum, in dem das stattfinden kann, was in der Familie stattfinden sollte. Die Erfahrung, sich gemeinsam um etwas zu kümmern, einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit zu haben, ist essenziell für Kinder.
TS | Warum?
GH | Solche Gemeinschaftserfahrungen sind die Voraussetzung dafür, dass das Kind in die individualisierte Gesellschaft, die wir heute haben, hineinwachsen kann. In Familien, in denen das nicht gelungen ist, bleiben die Kinder in einem primitiven Bindungsverhalten hängen, einer Beziehung, bei der es immer nur um Zwei geht; sie sind nicht in der Lage, sich auf ein gemeinsames Drittes einzustellen. Und damit ist nicht ein gemeinsamer Fernsehabend gemeint. Kinder, die diese geteilte Aufmerksamkeit nicht als Erfahrung verinnerlicht haben, sind eigentlich gar nicht unterrichtstauglich. Sie kennen keine Beziehung, die durch gemeinsames Tun entsteht. Solche Kinder stören. Sie werden entweder aus der Gruppe ausgeschlossen oder ziehen sich zurück. Insofern ist es im Interesse aller, aufzuwachen und zu merken, dass wir mit den von uns geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen das Fundament zerstören, auf dem unsere Kultur gebaut ist.
TS | In welchen Lernsituationen können Schüler mit geteilter Aufmerksamkeit aufbauende Erfahrung sammeln?
GH | Die Antwort ist banal – gemeinsames Singen, Musizieren, Theaterspielen, Bauen oder Basteln. Solche Lernerfahrungen liegen im musisch-ästhetischen Bereich, also in dem Bereich, der in unserem gegenwärtigen Schulsystem als nicht bedeutsam angesehen wird.
Im Moment ist unser Schulsystem hoffnungslos individualisiert. Die Kinder kümmern sich nur noch um ihre eigenen Belange. Wir nennen das dann Egoismus, aber in Wirklichkeit weisen uns die Kinder nur darauf hin, dass wir ihnen bestimmte Erfahrungen vorenthalten haben – gemeinsames Kochen, gemeinsam ein Bilderbuch anschauen zum Beispiel. Ich bin überzeugt, dass wir als Gesellschaft nicht mehr weiterkommen, wenn die Schule nicht endlich mehr Möglichkeiten zu gemeinschaftlichen Unternehmungen bietet. Ich bin gespannt, was aus einer solchen Gesellschaft von Individualisten wird.
Prof. Dr. Gerald Hüther ist Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Univ. Göttingen und Mannheim/ Heidelberg; Autor zahlreicher Bücher im Bereich der Hirnforschung.
Das Interview fand im Rahmen eines Forschungsprojektes des Instituts für Praxisforschung statt und wurde gemeinsam vorbereitet und gefilmt mit Karenina Spade (www.institut-praxisforschung.ch). Es wurde von dem Videomitschnitt transkribiert und für die erziehungskunst gekürzt.