Als ich zu Beginn des Schuljahres zusammen mit den Schülern meiner achten Klasse überlegte, mit welchen Biografien wir uns beschäftigen könnten, erlebte ich eine Überraschung. Ich hatte verschiedene Vorschläge gemacht: Helen Keller, Mahatma Ghandi, George Carver, die Weiße Rose, Jacques Lusseyran – standardmäßige Biografien eben –, aber die Schüler wollten darauf nicht eingehen. Schließlich bat ich die Klasse, selbst einen Vorschlag zu machen. Es trat Stille ein und ich musste einige Zeit warten, aber dann meldete sich eines der Mädchen und fragte, ob wir »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« lesen könnten.
Für einen Moment verschlug mir der Schreck die Sprache. Ich kannte das Buch und wusste, was es bedeutete, sich mit dem Lebensweg von Christiane F. zu befassen. Die Klasse hatte sich offenbar im Vorfeld schon auf diese Lektüre geeinigt und blickte mich erwartungsvoll an. Ich spürte, dass einiges davon abhing, wie ich auf diesen Vorschlag reagieren würde. Ich hatte zwar keine Berührungsängste mit den Themen, um die es in dem Buch ging. Aber das alles als Klassenlehrer mit pubertierenden Schülern zu besprechen, war neu für mich. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob der Vorschlag provokativ gemeint oder ein echtes Anliegen war. Ich hatte diese Schüler seit der ersten Klasse und so, wie ich sie kannte, tendierte ich zu Letzterem. Einen Versuch war es also wert.
Ich räusperte mich und sagte, ich könne mir vorstellen, diese Biografie mit der Klasse zu bearbeiten, aber da es dabei um sehr heikle Themen gehe, müsse ich zuerst die Erlaubnis der Eltern einholen. Die Klasse war einverstanden.
Auf einem Elternabend unterbreitete ich den Eltern den Wunsch der Klasse. Wir machten uns zunächst ein Bild davon, worum es in dieser Biografie ging, anschließend sprachen wir darüber. Manche Eltern kannten das Buch schon, manche waren erschrocken, dass ihre Kinder so etwas lesen wollten. Schließlich bat ich die Eltern um ihre Meinung zu dem Wunsch der Klasse. Auch hier trat zunächst Stille ein. Dann kam die Antwort: Wenn ich das Gefühl hätte, ich könne das mit den Schülern in einem positiven Sinne bearbeiten, dann wolle man mich unterstützen.
Annäherungen an die Welt der Christiane F.
Am folgenden Tag besprach ich mit der Klasse, wie ich vorgehen wollte. Ich schlug vor, dass immer eine Schülerin oder ein Schüler ein Stück aus dem Text vorlesen sollte, anschließend wollte ich eine gewisse Gesprächszeit, um das Gelesene kurz zu reflektieren, auf Fragen einzugehen und Unverstandenes zu klären. Die Klasse war einverstanden. Eines der Mädchen war Mitglied in einer Theatergruppe. Sie bot an, unsere Vorleserin zu sein. Sie konnte hervorragend lesen und die Klasse nahm das Angebot dankbar an – die Reise in das Leben der Christiane F. konnte beginnen.
Die nun folgenden Wochen und Monate werden mir unvergesslich bleiben. Etwa eine halbe Stunde vor dem Läuten zur großen Pause räumten wir die Schulsachen weg, ich holte das Buch heraus und übergab es unserer Vorleserin. Ich habe selten erlebt, dass eine Klasse mit solcher Aufmerksamkeit und echtem Interesse bei der Sache war.
Während das Mädchen vorlas, gab es so gut wie keine Unterbrechungen, keine zotigen Bemerkungen oder Gelächter. Mit großem Ernst folgte die Klasse den Ausführungen und im Anschluss ergaben sich angeregte Gespräche und ernste Fragen im Zusammenhang mit dem Inhalt. An den darauffolgenden Tagen, wenn wir zurückblickten, wurden die Erinnerungen an das Geschehen vom Tag davor lebendig, die Gespräche wurden intensiver und allmählich tauchten wir ein in die Zeit der 1970er Jahre, in der die damals vierzehnjährige Christiane F. heroinabhängig wurde.
Drogen mit zwölf
Christiane F. kam 1962 zur Welt. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach West-Berlin in ein Hochhaus der Neuköllner Gropiusstadt, einer Trabanten-Siedlung mit rund 19.000 Wohnungen, von denen 90 Prozent Sozialwohnungen waren, und die schon bald zum Problemgebiet wurde. Nach der Scheidung der Eltern – der Vater war Alkoholiker – verbesserte sich ihre soziale Situation nur bedingt. Bereits im Alter von zwölf Jahren konsumierte sie Drogen. Es gelang Christiane etwa zwei Jahre lang, ihre Drogenkarriere vor der Mutter zu verbergen.
Während wir uns im Laufe unserer Gespräche ein Bild von der Welt machten, in der Christiane F. lebte, berührten wir auch Themen, welche die Gegenwart der Schüler betrafen. Warum fängt man an, zu rauchen oder Alkohol zu konsumieren? Welche Rolle spielt dabei die Clique, zu der man gehört? Was passiert, wenn ich mich dem Gruppenzwang nicht fügen will? Warum ist das, was die Clique von mir erwartet, manchmal wichtiger als die Wünsche oder Vorschriften der Eltern? Solche Fragen wurden sehr ernsthaft besprochen.
Die Probleme des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen und damit die Phase der Pubertät rückten in den Mittelpunkt unseres Interesses. Die Suche nach einer sozialen Gruppe, in der Schritte zum Erwachsenwerden erprobt und die Ablösung aus der Sicherheit des Elternhauses allmählich vollzogen werden kann, war ein wichtiges Thema, auf das wir immer wieder zurückkamen.
Bei den Schülern war die Problematik des Rauchens durchaus schon aktuell. Um den Einstieg zu erleichtern, erzählte ich von meiner ersten Zigarette, die ich mit zwölf Jahren geraucht hatte, wie mir schlecht wurde und ich Kopfschmerzen bekam, aber auch davon, dass ich mich von da an meiner Clique erst richtig zugehörig fühlte, in der alle anderen schon rauchten. Dass eine Zigarette auch schmecken kann, erfuhr ich erst später. Am Anfang spielte das keine Rolle. Die Schüler erzählten darauf freimütig von ihren Erlebnissen, die sich nicht wesentlich von meinen unterschieden. Natürlich wurden auch die gesundheitliche Gefahren und die Abhängigkeitsproblematik besprochen.
Cool muss sein
Als ich dann fragte, warum es so schwer sei, aufzuhören, brachte es ein Mädchen auf den Punkt: »Ich weiß, dass es gesundheitsschädlich und eigentlich dumm ist, aber der Druck in der Clique ist so stark, dass ich nicht aufhören kann. Außerdem gehört es dazu, etwas Verbotenes zu tun, wenn man cool sein will. Man zeigt dadurch Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Vielleicht habe ich später einmal die Kraft, aufzuhören, aber jetzt geht es noch nicht.«
Wir schauten dann auch auf die Welt solcher Erwachsenen, die im sozialen Umfeld der Schüler rauchten. Wir nahmen ihre Ausreden unter die Lupe. Die Schüler hatten da einiges parat, meistens Äußerungen von Eltern, Verwandten oder Bekannten: Ich rauche, weil es mir schmeckt, weil es mich entspannt, mit einem Glas Wein und einer Zigarette kann ich den Stress des Tages hinter mir lassen. Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will, aber ich will nicht und mein Großvater war Kettenraucher, er wurde über achtzig Jahre alt. Uns wurde klar, dass damit nur die Sucht bemäntelt wird, weil das Leben ohne Zigaretten für diese Menschen an Glanz verliert und sie die Willenskraft, die fürs Aufhören nötig ist, nicht aufbringen können.
Die Schüler hatten schon oft beobachtet, dass Eltern im Auto rauchten, wenn sie ihre Kleinen vor der Schule ablieferten. Sie fanden das rücksichtslos den Kindern gegenüber und sie würden so etwas niemals tun. Ich bat sie, das alles gut im Gedächtnis zu behalten.
Lust und Gefahr liegen eng beieinander
Beim Alkohol verliefen die Gespräche ganz ähnlich, allerdings mit dem Unterschied, dass die Wirkung sehr viel deutlicher erlebt wurde, als bei den Zigaretten. Beschwipst zu sein, zu spüren, wie es einen warm durchrieselt, wie man locker wird und die Worte einem leichter von den Lippen gehen, wie Hemmungen verschwinden – das waren Erfahrungen, die einige Schüler schon gemacht hatten und über die sie offen sprachen. Auch die Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinnes wurde überwiegend als lustig empfunden. Ein Kater mit heftigen Kopfschmerzen und Übelkeit war auch schon erlebt worden. Von einem Mädchen der Klasse wussten die Mitschüler, dass es an Komasaufaktionen beteiligt gewesen war und teilten mir das außerhalb des Unterrichts im Vertrauen mit, worauf ich ein Gespräch mit der Mutter führen konnte, die davon völlig überrascht war.
Als wir über die Schattenseiten des Alkohols sprachen, die vielen Verkehrsunfälle, die darauf zurückzuführen sind, die Aggressivität, die durch Alkohol freigesetzt werden kann, Misshandlungen in Familien, Vernachlässigung von Kindern, kamen die Schüler ins Nachdenken. Mit anderen Drogen schien die Klasse noch keine Erfahrungen gemacht zu haben.
Bittere Wirklichkeit
Im Lauf der Lektüre und der Gespräche schwand allmählich die Sensationslust, die hier und da noch einige Schüler ergriffen hatte. Sie verstanden zunehmend, dass die Ereignisse um den Bahnhof Zoo kein Spiel waren, die Verzweiflung der Protagonisten wurde spürbar, wenn sie kein Geld für Heroin mehr hatten, wenn sie alles verkauften, was ihnen noch gehörte, um sich welches beschaffen zu können und den Qualen des Entzuges zu entrinnen. Wenn sie gar nichts mehr hatten, war die Prostitution ihr letzter Ausweg. Für manche Schüler war neu, dass Prostitution nicht nur Mädchen betraf, sondern auch Jungs.
Es war mir wichtig, den Schülern begreiflich zu machen, dass es sich hier nicht nur um eine interessante und spannende Geschichte handelte, sondern um eine bittere Wirklichkeit, unter der Tausende von Jugendlichen zu leiden haben. Anhand der Biografie von Christianes F. wurde auch deutlich, dass keineswegs nur Jugendliche aus sozial schwachen oder gestörten Familien zu Opfern des Drogenkonsums werden, sondern dass alle gesellschaftlichen Schichten betroffen sind. Besonders eindrucksvoll war es für die Schüler, dass Jugendliche, die kaum älter waren als sie selbst, sich aus Verzweiflung den goldenen Schuss setzten, weil sie nicht mehr weiterwussten und niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen wollten.
Daraus ergab sich auch die Frage, welche Eigenschaften ein Mensch haben sollte, dem man sich anvertrauen würde, wenn man in Schwierigkeiten geriete. Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Verständnis und Mitgefühl spielten da eine wichtige Rolle.
Weihnachtsbazar mit Flower Power
Um die Weihnachtszeit überraschte mich die Klasse. Der Weihnachtsbazar mit dem Thema »Orient« stand vor der Tür und traditionell oblag es der achten Klasse, das Bazar-Café zu organisieren. Inspiriert von Christianes Biografie kam die Klasse auf die Idee, dem Bazar-Café den Namen »Hippie-Café« zu geben und reichte diesen Vorschlag beim Bazar-Komitee ein. Der Vorschlag wurde abgelehnt mit der Begründung, ein »Hippie-Café« passe nicht an eine Waldorfschule. Die Klasse ließ sich dadurch jedoch nicht abschrecken, dachte nach und wählte dann »Flower Power Café« als neuen Namen. Das Bazar-Komitee stimmte zu, denn gegen ein »Café Blumenkraft« konnte eine Waldorfschule nichts haben. Im Malunterricht gestalteten die Schüler Plakate und Bilder für das Café, von denen einige sogar verkauft werden konnten.
Als dann der Tag kam, an dem der Bazar eröffnet wurde, erlebte ich die nächste Überraschung: Die Eltern der Klasse, die sich für die Arbeit im Café gemeldet hatten, erschienen teilweise in malerischer Kleidung, die offenbar seit vielen Jahren auf dem Dachboden geruht hatte und nun zu diesem Ereignis wieder ausgegraben worden war. Poppige Sonnenbrillen, bunte Schals und Westen waren zu sehen. Malerische Wandbehänge mit fernöstlichen Motiven schmückten die Wände und aus den Lautsprechern waren Lieder aus dem Musical »Hair« sowie indische Sitar-Klänge zu hören. Es herrschte eine sehr entspannte Atmosphäre, Eltern und Schüler verstanden sich prächtig.
Nach einem halben Jahr hatten wir die Lektüre beendet. Wir hielten Rückschau und ich fragte, ob noch irgendetwas zu besprechen sei. Die Schüler hatten einen Wunsch. Sie baten darum, ob es möglich sei, dass Mitarbeiter von Pro Familia an unsere Schule kommen könnten. Sie hätten eine Menge Fragen, die sie weder mit ihren Eltern, noch mit mir besprechen wollten.
Dieses Anliegen wurde ebenfalls mit den Eltern diskutiert. Sie konnten verstehen, dass die Jugendlichen neutrale Personen brauchten, die einerseits über Sachkenntnis verfügten, die vertrauenswürdig waren und die vor allem nach den Gesprächen wieder gingen, so dass die Privat- und Intimsphäre, die Jugendliche brauchen, gewahrt blieb. Wichtig war auch, dass die Eltern diesen Personen vertrauen konnten.
Die Mitarbeiter von Pro Familia kamen und für die Dauer der Gespräche wurde der Unterricht ausgesetzt. Als diese Treffen beendet waren, meinten die Vertreter von Pro Familia, das sei eine tolle Klasse gewesen.
Wenn ich auf dieses Biografieprojekt zurückblicke, zittern mir heute noch leicht die Knie. Ich hatte mich wieder einmal von gewohnten Wegen entfernt und Neuland betreten. Niemand konnte vorhersagen, ob dieses Unternehmen gelingen oder wie es enden würde. Was mich in dieser Zeit getragen hat, war einerseits das Vertrauen der Eltern, vor allem aber das Gefühl, dass ich mit den Schülern meiner Klasse in dieser Zeit stark verbunden war.
Ich hatte die Frage gespürt, die sie im Innern bewegte und versucht, den Weg, der zur Antwort führte, gemeinsam mit ihnen zu gehen.
Zum Autor: Bernd Kettel war 35 Jahre lang Klassenlehrer an der Freien Georgenschule Reutlingen.