Eines Tages hielt mir eine kleine, sanguinische Erstklässlerin einen Löwenzahn hin und befahl: »Puste mal!« Ich gehorchte – und die Blüte knickte weg. Sie hatte blitzschnell ein Stöckchen aus dem präparierten Stängel rausgezogen und rief vergnügt: »Du bist ein Umweltverschmutzer!«
Natürlich war das nur ein Kinder-Witz, aber er ließ mich nie wieder ganz los. Geht in diesem Alter nicht alles darum, den Kindern die Augen für unsere wunderbar lebendige und unendlich schöne Welt zu öffnen, damit sie sie mit ihren Sinnen erforschen, mit ihren Händen gestalten, mit ihrer denkenden Phantasie verstehen können? Was geht aber in einem Kind vor, wenn es von klein auf hört, dass der Mensch die Welt zerstört, während es eigentlich mit tiefster Hingabe erleben will, wie innig es mit ihr und sie mit ihm zusammenhängt?
Wenn eine Raupe frisst und knabbert, was das Zeug hält, sich dann in die Unsichtbarkeit einspinnt und zuletzt als blütenleichter Schmetterling durch die Sommerluft gaukelt, offenbart sie ihr Wesen in der Zeit und der Verwandlung, wie es auch die Pflanzen tun, indem sie sich vom Samen über den Keim, das Blatt und die Blüte bis zu neuer Frucht metamorphosieren. Es ist das Geheimnis alles Lebendigen, dass es sich erst in der Zeit, durch Rhythmen und in der Verwandlung offenbart.
Wie kann ein Kind lernen, diese Prozesse innerlich nachzubilden, mit der Welt zu fühlen und zu denken? Der erste Schritt ist ohne Zweifel die Hingabe an die Welt, die jedes Kind mitbringt. Geben wir ihm genügend viele Gelegenheiten, sie nach- oder besser mitahmend zu erforschen oder speisen wir es mit vorgefertigten Wissenskonserven ab? Der zweite Schritt ist, die Kinder über lebendig erzählte Bilder dazu anzuregen, die großen, kleinen oder auch ganz großen Zusammenhänge mitzufühlen und gedanklich nachzuschaffen. Märchen sind dafür wunderbare Lehrmeister, aber es muss weitergehen bis zu den großen Bögen der Geschichte, der Naturreiche, der Geografie und allem, was man lernen kann. Wenn eine sechste Klasse in einer exakt konstruierten geometrischen Zeichnung die Gestalt eines Kiefernzapfens oder eines Schneckenhauses wiederentdeckt, verbinden sich zeichnerische Präzision mit dem exaktem Denken und der Phantasie.
Die Klimaerwärmung ist ein Gradmesser für die seelische und geistige Entfremdung von uns zur Welt. Kinder sollen die Welt sehen, schmecken, fühlen, tasten und in ihrem Werden erleben dürfen, damit sie sie verstehen und bewusst gestalten können. Wir müssen die Natur in ihrem Werden und unsere Handlungen in ihren Wirkungen denken lernen, wenn wir einen Klimawandel bewirken wollen, der die lebendige und beseelte Welt ebenso umfasst wie unser Zusammenleben auf dem Planeten. Der Klimawandel sind wir selbst.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis sowie Koordinator von Waldorf100 und Autor des Buches Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten an die Waldorfpädagogik.