Erziehungskunst | Herr Abouleish, einige Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika erleben beispiellose gesellschaftliche Umwälzungen. Die sogenannte Arabellion erfasst immer mehr Länder. Gibt es tiefer gehende Gründe als den Wunsch nach Demokratie, Arbeitslosigkeit und Facebook?
Ibrahim Abouleish | In den vergangenen Jahrzehnten haben in der arabischen Welt Denker, Philosophen und Dichter in ihren Werken die geistigen Grundlagen für diese Veränderung geschaffen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Zuständen und die Aussicht auf Zukunftsperspektiven gehören zur Basis der Rebellion. Diese Bewegung wurde angeführt von kritischen Künstlern, die ihr Unbehagen über die bestehenden Zustände publiziert haben.
Zahlreiche Denker aus verschiedenen arabischen Ländern haben in Europa gelebt. Die Berührung mit den europäischen Kulturen und Sprachen und die Auseinandersetzung mit ihnen bilden einen fruchtbaren Boden für neue Ideen.
EZ | Viele der betroffenen Länder sind zur Zeit in einer desolaten Situation. Was ist notwendig, damit sich die Verhältnisse stabilisieren?
IA | Was wir heute erleben, ist eine gewaltige Erschütterung, die durch alle Lebensbereiche der arabischen Gesellschaft geht. Es ist ein Prozess der Wandlung und auch der Reinigung, der unabdingbar ist. Die Prozesse der Wandlung und Veränderung müssen respektiert, verstanden und unterstützt werden. Eine positive Begleitung dieser Vorgänge, vor allem auch auf geistigem Gebiet ist wichtig. Wesentlich wird sein, dass weiterhin Philosophen und Denker als »Katalysatoren« für den Prozess des Erwachens integriert werden. Wir dürfen auch auf die Mitwirkung der übersinnlichen Welt vertrauen, die uns geistige Unterstützung gibt, wenn wir die Ideale auf der Erde umsetzen wollen.
EZ | Befürchten Sie, die alten Verhältnisse könnten zurückkehren?
IA | Die alten Zustände können nicht zurückkehren, dazu ist die Bewegung viel zu groß und weit fortgeschritten. Es gibt kein Zurück! Bei den jungen Menschen ist ein Bewusstsein für ethische Fragen und sozialen Wandel erwacht. Auch wenn Ergebnisse zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sichtbar sind, wird dieses neue Bewusstsein in der Zukunft ein Indikator der Veränderung sein. Wesentliche Voraussetzung ist eine menschengemäße Erziehung und Ausbildung, die in den jungen Menschen die Kraft der Phantasie weckt. Sie brauchen Kreativität, um die anstehenden Aufgaben lösen zu können, wie zum Beispiel die Fruchtbarkeit der Erde zu erhalten, demokratische politische Systeme zu schaffen, die Achtung der Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit durchzusetzen.
EZ | Wie wird es im Nahen Osten und in Nordafrika in zwanzig Jahren aussehen?
IA | In zwanzig Jahren wird der Verwandlungsprozess fortgeschritten sein und sich den Idealen der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenwürde, dem ethisch-ökologischen Wirtschaften und der nachhaltigen Entwicklung annähern. Eine Transformation braucht Zeit und aus dem derzeitigen Chaos kann das Neue entstehen.
EZ | SEKEM pflegte vor der ägyptischen Revolution gute Verbindungen zu den Ministerien. Ihr Sohn Helmy war hundert Tage in Haft, weil ihm Korruption vorgeworfen wurde. Wie sehen die Verbindungen zur jetzigen Regierung aus?
IA | Unsere Beziehungen zum alten Regime zielten darauf ab, das politische System durch die Ideen der »Green Economy« zu verwandeln.
2004 wurde von Helmy Abouleish der »Egyptian Competetiveness Council« gegründet, eine NGO, die jährlich einen Bericht über die wirtschaftliche Situation des Landes publizierte, um die Wettbewerbsfähigkeit Ägyptens im internationalen Vergleich zu messen. Dieser Bericht diente der ägyptischen Regierung als Empfehlung für strategische Entscheidungen. Ideen der nachhaltigen Entwicklung wurden darin publiziert.
Sekem will sich geistig-seelisch an den Verwandlungsprozessen in der ägyptischen Gesellschaft beteiligen und weiterhin Ideen der nachhaltigen Entwicklung in Ägypten einbringen.
EZ | Ägypten leidet unter wirtschaftlichen Einbußen, nicht nur durch den Rückgang des Tourismus. Inwieweit ist SEKEM davon betroffen?
IA | Die gesamte wirtschaftliche Lage Ägyptens ist von den politischen Umbrüchen betroffen. Auch die Sekem-Firmen erleiden Einbrüche, die sowohl im Export als auch im lokalen Markt zu erheblichen Rückgängen im Verkauf geführt haben.
Dennoch sind wir voller Hoffnung, dass bald ein Aufschwung folgen wird, da in unserem Land mehr als 80 Millionen Einwohner leben.