Hogwarts – Das zauberhafte Waldorfhaus

Rainer Gierth

Wir alle kennen die Geschichte von Harry, Hermine und Ron, den Helden aus der Romanverfilmung »Harry Potter« nach der gleichnamigen Fantasy-Reihe der englischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Die Geschichte beschreibt das Leben junger Zauberer in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, in sieben Jahren. Die Romanhelden, allen voran Harry, stürzen sich in ein Abenteuer nach dem anderen, um den dunklen Lord Voldemort zu bezwingen, der die ganze Welt, die der Zauberer und die der Muggel (Menschen), allein beherrschen möchte. Eine im Grunde einfache Geschichte, in der Gut und Böse klar verteilt sind und das Ende absehbar ist.

Warum fasziniert uns also gerade diese Geschichte immer wieder aufs Neue? Zugegeben, die Dialoge sind geistreich und witzig, die einzelnen Episoden spannend bis zum Schluss, im Film gibt es jede Menge Spezial-Effects und die Story schickt einen auf die Reise in eine fantastische Welt.  Aber selbst, wenn wir dies alles berücksichtigen ist es doch auffällig, dass einige von uns immer und immer wieder dem Zauber dieser Geschichte verfallen. Ich meine, man kann doch spätestens beim vierten Mal Zusehen schon ganze Dialoge auswendig und jede Szene detailgetreu erwarten, noch bevor sie tatsächlich erzählt wird. Bei vielen anderen Romanen und deren Verfilmungen ist dann doch wohl spätestens beim vierten Mal tatsächlich Schluss – oder? Warum also nicht auch bei »Harry Potter«?

Jedes Mal, wenn ich mir die komplette Romanverfilmung ansehe, und das passiert regelmäßig innerhalb der Adventszeit, überkommt mich ein seltsam heimeliges Gefühl. Ja, ich erwarte dieses Gefühl schon sehnsüchtig und möchte es ganz bewusst an diesen Filmabenden herbeiführen. Warum ist das so? Ist es Realitätsflucht? Sicher, ein bisschen! Hat es etwas mit der Adventszeit zu tun? Klar, in meiner Kindheit hatte ich dieses Gefühl im Advent auch ohne »Harry Potter«. Und heute? Heute ist es, denke ich, für uns alle schwierig geworden, dieses heimelige, gemütliche, behütete Gefühl wahrhaftig zu erleben. Aber trotzdem erinnern wir uns noch gut daran – im Hause unserer Kindheit.

Wir alle wollen dieses Gefühl wiederhaben. Da bin ich mir sicher. Aber wie stellen wir das an? Bei all dem Kram, den wir in der heutigen Zeit so erledigen (müssen), finden wir doch oft nicht einmal im Advent (oder gerade auch dann nicht) die nötige Zeit dafür, uns eine Umgebung zu schaffen, die ein solch wohliges Gefühl in uns selbst erwecken würde. Und ist der Kram dann endlich erledigt, haben wir allenfalls noch ein wenig Zeit übrig für unsere »zeitgenössische« Problemlösungsstrategie: wir konsumieren dieses Gefühl! Jeder auf seine Art und Weise. Aus diesem Grund schaue ich »Harry Potter«!

In der Welt, die im Roman »Harry Potter« erzeugt wird, ist dieses heimelige, gemütliche, behütete Gefühl zu jedem Zeitpunkt allgegenwärtig. Warum ist das so? Dazu müssen wir erst einmal verstehen, was Hogwarts im tieferen Sinne eigentlich ist. Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei, ist nichts anderes als eine Schutzzone. Ein Ort, an dem Zauberschülerinnen und -schüler vor der Außenwelt, dem dunklen Lord Voldemort und dessen Vasallen, beschützt werden. Dies geschieht durch tatkräftig handelnde Akteure: dem Zaubereiministerium, dem Orden des Phoenix, Hogwarts selbst mit seinen dicken Mauern und seiner uralten Magie, den Professoren, dem Wildhüter und dem Hausmeister sowie so manch tatkräftigem Elternteil. Der Leser bzw. der Zuschauer wird in eine Welt versetzt, in der die Kinder von verschiedenen Schutzmauern, gleich denen einer mittelalterlichen Burganlage, umschließend beschützt werden. In dieser Schutzzone erleben dann unsere Romanhelden Harry, Hermine, Ron und alle anderen ihre »behüteten« Abenteuer. Hogwarts kann also nicht anders: Hogwarts ist ein zauberhaftes Waldorfhaus!

Doch Hogwarts ist nicht real! Wir, die Zuschauer, schlüpfen in die verschiedenen Charaktere hinein oder werden einfach nur Teil dieser behüteten Fantasiewelt. Dadurch erleben wir kurzzeitig diese »zauberhafte« Atmosphäre und in uns steigt dieses heimelige, gemütliche, behütete Gefühl herauf, welches Roman und Verfilmung so besonders macht.

Wie passt Hogwarts aber nun ins »System Waldorf«? Ganz einfach: Die Akteure in Hogwarts und im »System Waldorf« eint die gemeinsame Arbeit an einem übergeordneten Ziel: Dem Schutz der Kinder und der Kindheit, damit sich Kinder frei aus sich selbst heraus entwickeln können.

Um dieses Ziel zu erreichen, handeln die Akteure mit der »Zauberkraft« der Waldorfpädagogik als fester Bestandteil des Kulturimpulses Anthroposophie auf dem Gebiet der Sozialpädagogik. Ich meine, wenn Albus Dumbledore kein Waldorfpädagoge ist, wer dann? Immerhin lässt er Harry, Hermine und Ron im Erleben ihrer Abenteuer mehrfach ungestraft gegen einzelne Punkte der Hausordnung verstoßen, weil er weiß, dass das höhere Ziel, der Kampf gegen den dunklen Lord Voldemort, nur aus den frei entwickelten Zauberkräften der Kinder heraus gelingen kann. Das macht am Ende der Geschichte eben auch den entscheidenden Unterschied zwischen Lord Voldemort, seinen Vasallen und Harry Potter und seinen Freunden aus. Die Vasallen Voldemorts folgen ihm aus Angst vor Strafe. Sie kennen nichts anders als die Befolgung seiner Regeln und Gesetze. Die Freunde Harry Potters helfen ihm aus Liebe. Sie haben über die Jahre in Hogwarts gelernt, »daß alles Reden über Programme und Statuten nur eine Konzession an die Welt ist, daß dasjenige, um was es sich handelt, das individuelle Zusammenleben sein muß, was sich aus dem positiven Menschen heraus ergibt, daß gegenseitiges Verständnis dasjenige ist, auf was es ankommt.« (Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag 1916, erschienen in GA 168, Rudolf Steiner Verlag, Dornach, S. 109)

Doch wie wirkt der Kulturimpuls Anthroposophie hinein in die Zusammenarbeit innerhalb des »Systems Waldorf« und damit hinein auch in unser Waldorfhaus? Hierzu ist es wesentlich zu verstehen, dass zu diesem Kulturimpuls eine soziale Idee gehört, welche Rudolf Steiner als einen lebendigen sozialen Organismus beschreibt. Damit ist eine besondere Art der Selbstverwaltung auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens gemeint, welche das einzelne Individuum und die Früchte seiner individuellen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen will. »Innerhalb dieser Selbstverwaltung kann allein der Zustand eintreten, durch den nicht ein die Fruchtbarkeit der Einzelmenschen für das soziale Leben unterdrückender Gesamtwille entsteht, sondern durch den in das Gesamtleben die menschlichen Einzelleistungen zu dessen Wohle aufgenommen werden. Innerhalb einer solchen Selbstverwaltung werden sich aus dem Geistesleben heraus die Gesichtspunkte ergeben, (…) durch welche an die Stelle von Gesetz und Verordnung das unmittelbar lebendige Vertrauen gesetzt werden kann.« (Rudolf Steiner, Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus. Aufsatz 1919,  erschienen in GA 24, Rudolf Steiner Verlag, Dornach, S. 208). So entsteht ein sozialer Organismus, welcher die aktiven konstruktiven Geisteskräfte der Akteure fördert und die passiven destruktiven Geisteskräfte nicht zur Wirksamkeit kommen lässt.

Das »System Waldorf« kann also im Sinne des Kulturimpulses Anthroposophie auf dem Gebiet der Waldorfpädagogik nur als sozialer Organismus im Sinne Rudolf Steiners verstanden werden. D.h. die Akteure, welche in den Kindergärten aktiv tätig sind, sollen auch aktiv darüber bestimmen, wie »Kindergarten« funktionieren soll.

»In den Darstellungen Rudolf Steiners sind (…) richtungweisende Impulse für den Aufbau eines gesunden sozialen Organismus und die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten des Menschen ausgearbeitet. Wenn es gelingt, die Zusammenarbeit in diesem Sinne lebendig zu gestalten, wird die Menschenbegegnung selbst zur Quelle unmittelbarer Geisterkenntnis und -erfahrung. Dann bildet sich (...) die Kraft, durch die ein Höheres hereingerufen wird und sich der spirituelle Impuls der Waldorfpädagogik verwirklichen kann.« (Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V., Vereinigung → Leitbild → Aufgaben und Ziele, Grundlagen der Zusammenarbeit, zuletzt abgerufen am 03.10.2017).

Schöne Worte, deren Grundvoraussetzungen nicht einfach zu erfüllen sind: Es setzt nämlich erstens den aktiv tätigen Menschen voraus, welcher konstruktiv an seiner materiellen Aufgabe innerhalb des Systems arbeitet. Zweitens setzt es die aktive Suche dieser Menschen nach Begegnung mit anderen Menschen im System voraus, um ihre und des Anderen Leistung für das Gesamtsystem fruchtbar zu machen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die nüchterne Erledigung von Aufgaben, sondern um eine »unmittelbare Geisterkenntnis und -erfahrung« (ebenda), welche man als eine Art intuitive Verbindung von Menschen innerhalb des Tätigseins für eine gemeinsame Idee (hier: Schutz des Kindes und der Kindheit) bezeichnen kann. In Folge dessen stellt sich ein im wahrsten Sinne des Wortes »ursprüngliches« Vertrauen in den jeweils anderen Menschen und das Gesamtsystem ein. Ähnlich wie die einzelnen Organe des menschlichen Körpers sich untereinander und dem Körper selbst »vertrauen«. Aktive Mitarbeit und Menschenbegegnung sind also die Grundlage für das Funktionieren des »Systems Waldorf« und damit unerlässlich für eine Waldorfpädagogik im Sinne des Kulturimpulses Anthroposophie Rudolf Steiners.

Setzen wir doch gedanklich mal Harry, Hermine, Ron und alle anderen Zauberschülerinnen und -schüler in den Mittelpunkt des »Systems Waldorf« und konstruieren die weiteren Akteure in Hogwarts schützend um diesen Mittelpunkt herum. Schon entsteht die typische Schutzzone eines Waldorfkindergartens (siehe Bild).

Mit anderen Akteuren selbstverständlich. Ich meine zumindest der Hausmeister Argus Filch gehört nun wirklich nicht in einen echten Kindergarten! Die Kreise symbolisieren die aktiv tätigen Akteure als Gruppe. Professoren, Wildhüter und Hausmeister betrachten wir zur besseren Übersichtlichkeit als dem Kollegium zugehörig. Die Zwischenräume symbolisieren die Menschenbegegnung. Weiß ist die Menschenbegegnung zwischen den verschiedenen Gruppen, grau ist die Menschenbegegnung innerhalb einer Gruppe. Bei lebendiger Zusammenarbeit innerhalb des Systems sowie aktiv tätiger Menschen, Entschuldigung: Zauberer, welche ihre jeweilige Aufgabe auf allen Ebenen des Systems gerecht werden, entsteht ein lebendiger sozialer Organismus im Sinne des Kulturimpulses Anthroposophie Rudolf Steiners.

Je stärker dieser soziale Organismus ist, desto mehr »schädliche« äußere Einflüsse (Lord Voldemort) werden von den Zauberschülerinnen und -schülern in Hogwarts ferngehalten. »Schädliche« Einflüsse sind hier sowohl materiell (Zaubern Minderjähriger in der Öffentlichkeit, eine Spritztour mit Arthur Weasleys verzaubertem Ford Anglia, nächtliches Umherwandeln in den Gängen von Hogwarts, etc.) als auch geistig (Stimmungen, Gefühle, Gesinnungen, etc.) zu verstehen.

U.a. die Frage: »Was ist schädlich?« wird innerhalb des Systems selbst, natürlich unter Berücksichtigung waldorfpädagogischer Werte, bearbeitet. Schließlich sprechen wir ja hier vom »System Waldorf«.

Wenn man Steiners Auffassung teilt, »dass die (…) freie Urteilskraft nur auf einem zuvor angelegten Boden sinnbildlich-gemüthafter Welterfahrung richtig gedeihe« (Die Erziehung des Kindes, 2. Auflage 2013, S.9, Futurum Verlag, Basel), so wird deutlich, wie wichtig es ist, diesen Boden selbst anzulegen und eben nicht von der Außenwelt (Lord Voldemort), dem Mainstream, der Gesellschaft einfach zu übernehmen. Es ist leicht zu verstehen, dass bewusst ungewollte (»schädliche«) Welterfahrungen, die durch die schützenden Hüllen zu den Kindern durchdringen, negative Auswirkungen auf spätere freie Entscheidungen der Kinder hätten. Darüber hinaus lernt das Kleinkind nicht durch den eigenen Verstand, sondern durch das Vorbild. »Je nach Umgebung wird sich auch beim Kinde die Gesinnung edel oder unedel gestalten. So ist es möglich, systematisch, mit vollem Bewusstsein durch das Vorbild im gewöhnlichen, täglichen Leben auf das kleine Kind zu wirken.« (Rudolf Steiner, Über Erziehungsfragen. Ein Vortrag. Erschienen in: Die Erziehung des Kindes, 2. Auflage 2013, S. 61, Futurum Verlag, Basel). Dies kann als Auftrag zur (geistigen) Selbsterziehung jedes einzelnen Menschen im »System Waldorf« verstanden werden. Rudolf Steiners Schriften geben hierzu Anregungen und Hilfestellungen (insbesondere die »Nebenübungen« aus z.B. Rudolf Steiner, Die sechs Nebenübungen und die sieben Bedingungen der inneren Entwicklung, Heft Nr. 38, Archiati Verlag München, www.forumgeisteswissenschaft.de und die »Seelenübungen« aus z.B. Rudolf Steiner, Sich selbst erziehen, Das Geheimnis der Gesundheit, Futurum Verlag, Basel).

Auch in unserem Waldorfhaus sind wir alle (Kinder, Eltern, Pädagogen, Gremien, Elternrat, Vorstand, Vereinigung der Waldorfkindergärten) einzeln und in der Gruppe im »System Waldorf« tätig. Um eine Waldorfpädagogik im Sinne ihres »Erfinders«, Rudolf Steiner, zu erhalten und in einer sich rasant verändernden Welt den Anforderungen entsprechend handeln zu können, wird es auch für uns in Zukunft darauf ankommen, einen lebendigen sozialen Organismus im obigen Sinne zum Schutze unserer Kinder und der Kindheit auszubilden, damit sich unsere Kinder frei aus sich selbst heraus entwickeln können. Machen wir ihnen das Geschenk, in Zukunft wahrhaftig freie Menschen zu sein. Beginnen wir mit der bewussten Entscheidung für einen gemeinsamen Weg mit den Menschen, die unmittelbar mit uns durch ein gemeinsames Schicksal (unsere Kinder besuchen einen Waldorfkindergarten - oder?) verbunden sind. Es liegt in unserer Hand. Arbeiten wir daran!

Zum Autor: Rainer Gierth ist Vater von zwei Töchtern und Vorstand im Waldorfhaus Wuppertal e.V., arbeitet für das Land NRW in Düsseldorf, ist aktiver Ehrenamtler (u.a. Mitbegründer des Vereins Democracy International e. V.), Hobbyautor und Steiner-Fan.