Ohne Prädikat

Christian Boettger

Vor 120 Jahren promovierte Steiner bei Heinrich von Stein an der Universität Rostock. Aus diesem Anlass fand am 4. November 2011 ein Symposium statt.

Albrecht Hüttig, Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen, erläuterte Rudolf Steiners erkenntnistheoretischen Ansatz zu der Zeit seiner Promotion. Ludger Jansen vom Institut für Philosophie der Universität Rostock berichtete über die Geschichte von Steiners Dissertation. Steiner war einer der Menschen, die damals von außerhalb kommend an der Universität Rostock promovierten. Er war wohl nur zweimal in der Stadt: das erste Mal, um das Thema mit seinem Doktorvater Heinrich von Stein abzusprechen und ein zweites Mal zur mündlichen Prüfung, dem Rigorosum, am 23. Oktober 1881 abends um 8 Uhr.

Alle Aktenvorgänge der Promotion, inklusive Gutachten und Prüfungsprotokoll, passten auf einen einzigen Kanzleibogen. Die Prüfung fand im Hauptfach Philosophie statt (über die »Kantschen Grundbegriffe und dann kürzer diejenigen von Spinoza und Leibniz«), in Mathematik (Grundlagen der Differential- und Integralrechnung, Geometrie der Kegelschnitte) und in analytischer Mechanik (Lehre von den Trägheitsmomenten, von der Bewegung starrer Körper, von dem Prinzip der lebendigen Kraft). Im Protokoll steht weiterhin: »Die Promotion wurde einstimmig beschlossen, ein Prädikat wurde nicht erteilt.«

Außer Rudolf Steiner waren acht Personen anwesend. Rudolf Steiner musste nach Promotionsordnung 150 gedruckte Exemplare seiner Schrift der Universität überlassen. Bis heute gibt es vermutlich keinen Promovenden der Universität Rostock, dessen Dissertation eine ähnlich große Verbreitung wie Rudolf Steiners »Wahrheit und Wissenschaft« erreicht hat. Neben Heinrich Schliemann, dem bekannten Entdecker Trojas, der wie Rudolf Steiner als Externer an der Universität promovierte, gibt es wohl keinen Bekannteren.

In der lebhaften Diskussion wurde nachgefragt, was es bedeute, dass ein Prädikat nicht erteilt wurde. Es ist wahrscheinlich, dass es bei externen Prüfungen nur um die Feststellung genügend (rite) oder ungenügend ging, also bestanden oder nicht bestanden. Der Doktortitel war für Rudolf Steiner in Bezug auf seine wissenschaftliche Anerkennung wichtig. Vermutlich war er auch die Eintrittskarte in die Arbeiterbildungsschule in Berlin und in die Theosophische Gesellschaft. Dazu stellte ein Diskussionsteilnehmer humorvoll fest, die Anthroposophie und damit auch die Waldorfschulbewegung sei Rostock zu verdanken.

Literatur:

Rudolf Steiners Dissertation – Mit zahlreichen unveröffentlichten Briefen und Dokumenten, Rudolf Steiner Studien Band V, Dornach 1991