Tun, was die Verhältnisse fordern

Mathias Maurer

Molt war als Unternehmer und »Pädagoge« eine Persönlichkeit, deren Lebenslauf moderner nicht sein kann und die in ihrem Wirken ihrer Zeit vorbildhaft voraus war. Molt ging immer aufs Ganze – als geliebter »Patriarch« der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria und der ersten Waldorfschule in Stuttgart, für deren Start und Unterhalt er nahezu sein gesamtes Privatvermögen einbrachte. Er versuchte sozialreformerische Ideen zu verwirklichen, die damals und heute noch als Utopie gelten. Er bot im Betrieb seinen tausend Beschäftigten – die für ihn nicht Arbeiter, sondern Arbeitskollegen waren – und deren Kindern ein Bildungsprogramm während der (bezahlten!) Arbeitszeit. Er lieferte kostenlos Zigaretten an die Front und versorgte die Soldaten mit schöngeistiger Literatur. Er stellte seine Kriegsheimkehrer ein, obwohl er zunächst keine neuen Arbeitskräfte brauchte.

Molt arbeitete sich vom Lehrbuben zum international bekannten Geschäftsmann empor. Er wusste seine Ellenbogen einzusetzen, zu taktieren, und hatte als Unternehmer Erfolg. Molt war voller Fragen gegenüber den Entwicklungstendenzen seiner Zeit. Die Aufbruchsstimmung des neuen Jahrhunderts führte in die Katastrophe des 1. Weltkrieges und in die Wirren der Weimarer Republik. Neue Gesellschaftsordnungen hatten Hochkonjunktur. In dieser historischen Situation begegnete er Rudolf Steiner, bei dem er Antworten fand und dessen Ideen zur »Dreigliederung des sozialen Organismus« bei ihm, dem Praktiker, zündeten.

Molt war ein Tatmensch. Er redete nicht nur über diese sozialreformerischen Ideen, sondern handelte nach ihnen. Er stellte seine eigenen Prinzipien des Kapitalismus auf den Kopf – zuerst innerbetrieblich, dann in größerem Stil – eine bewundernswerte Wandlung. Dazu gehörte die Vorstellung der assoziativen Wirtschaftweise. Es wurde die »Kommende Tag AG« gegründet, zu der über 20 Betriebe gehörten, aus deren Überschüssen Einrichtungen des Geistes- und Kulturlebens finanziert wurden, so auch die Waldorfschule. Ziel war es, das Bildungswesen aus der staatlichen Bevormundung zu befreien. Molt überschrieb alle Aktien der »Waldorf-Astoria« dem »Kommenden Tag«, verlor seinen Führungsposten und wurde von den Weisungen des von Steiner eingesetzten Leiters der Holding »Kommender Tag AG«, Emil Leinhas, abhängig. In einer wirtschaftlich angespannten Lage veranlasste Leinhas – »ein rätselhafter Gegenspieler und Mitstreiter« Molts –, den Verkauf der »Waldorf-Astoria«-Aktien an Reemtsma. Molt musste hinnehmen, dass ihm die Früchte seines unternehmerischen Lebenswerkes aus der Hand genommen wurden – was einem Vertrauensbruch gleichkam. Die Beziehung zu Steiner, der oft bei ihm logierte und mit dem er viel auf Reisen war, litt – für Molt ein schmerzliches Geschehen.

Eine ähnliche »Entmachtung« erfuhr er durch die Lehrerschaft, die gegenüber dem menschlich zugewandten, doch patriarchalischen Führungsstil Molts ihren Anspruch auf kollegiale Selbstverwaltung durchsetzte. Molt selbst gehörte auf ausdrücklichen Wunsch Steiners in der Anfangszeit zum Kollegium und nahm an den Konferenzen teil. Jetzt war er »nur« noch Vorsitzender des Waldorfschulvereins, blieb aber mit allem Einsatz »Schulvater« und »Protektor« seiner Schule.

Dem wachsenden Gleichschaltungsdruck durch die Nationalsozialisten stellte er sich ab 1933 vehement entgegen. Juden und »Halbjuden« mussten die Schule verlassen – darunter die besten Lehrer. Als der Elternrat und ein Teil der Lehrerschaft für mehr Anpassung an den Staat plädierten und Molt zum Rücktritt aufforderten, blieb er unbestechlich. Er war kein Opportunist. Die unvermeidliche Schließung der Schule 1938 hat er nicht mehr erlebt.

Molts Leben weist enorme Verzichtsleistungen auf, ohne dass er seine anthroposophischen Überzeugungen verlor. Er hatte immer das Größere und Ganze vor Augen. Ob sein Vertrauensvorschuss immer gerechtfertigt war, darf man bezweifeln, da er auch aus den eigenen Reihen bekämpft wurde. Bei internen Streitigkeiten versuchte er stets zu vermitteln – nicht immer mit Erfolg. Interessant ist, dass die damaligen Kernfragen ungebrochen aktuell sind: Kann Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie existieren? Wie geht man als Waldorflehrer mit den Anregungen Rudolf Steiners zeitgemäß um? Ist politische Neutralität und Abstinenz konstitutiv für die Waldorfschulen? Wo stehen die Waldorfschulen heute mit ihrem Ziel, das Erziehungswesen von der Steuerung durch Wirtschaft und Obrigkeit freizuhalten? Spielt die »Dreigliederung des sozialen Organismus« noch eine Rolle?

Emil Molt und seine selbstlose Leistung drohen heute selbst in Waldorfkreisen in Vergessenheit zu geraten. Lediglich zwei Schulen wurden bisher nach ihm benannt – in Calw, wo er seine Lehrzeit verbrachte, und in Berlin. Dietrich Esterl, Schüler der ersten Stunde nach der Wiedereröffnung der Stuttgarter Uhlandshöhe am 8. Oktober 1945, Historiker und langjähriger Oberstufenlehrer an dieser Schule, ist es zu verdanken, dass nun die erste Biographie Molts, die gleichzeitig ein Zeitdokument ist, vorliegt. Das Buch ist Ergebnis einer umfangreichen langjährigen Forschungsarbeit. Aus dem von Esterl zusammengesuchten, in Archiven aufgefundenen Material ergeben sich viele neue Erkenntnisse, die auf manches Unerforschte und noch im Dunkeln Liegende hinweisen. »Tun, was die Verhältnisse fordern« (Steiner), diesem Motto hat Molt ein Leben lang gedient. Es gehört in die Hand und in den Kopf aller an der Waldorfschule interessierten Menschen.

Dietrich Esterl: Emil Molt, 1876-1936, Tun, was gefordert ist, 344 S., 118 Abb., geb., EUR 24,80, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart 2012 | Emil Molt: Entwurf meiner Lebensbeschreibung, Stuttgart 1972 | Dietrich Esterl: Die erste Waldorfschule, 1919-2004, Daten, Dokument, Bilder, Stuttgart 2006

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