Der Lehrer einer 2. Klasse war eines Tages sehr überrascht, als ihn einige Kinder baten, auch einmal den Zeugnisspruch eines Klassenkameraden aufsagen zu dürfen. Wie üblich, hatte er nach den Sommerferien die 37 Schüler und Schülerinnen auf die fünf Schultage der Woche verteilt – es gab folglich die Montags- bis Freitagskinder – doch nun, zwei Wochen vor Weihnachten, schlugen ihm ein paar gewitzte Sanguiniker vor, bitte auch die Gruppen der Samstags- und Sonntagskinder einzuführen. Bald freuten sich die Schüler diebisch darauf, bei den Worten »Heute sind die Samstagskinder dran!« herausstürmen zu dürfen, um dann plötzlich wieder recht ernst den Spruch eines anderen Kindes vorzutragen. Es schien ihnen dabei wichtig zu sein, mit keiner Miene zu verraten, wem der Spruch ursprünglich zugedacht war. Die ausgewählten Zeugnissprüche hatten tatsächlich Anklang gefunden, man begann, sich darum zu »streiten«.
Das Zeugnisspruch-Sammelalbum
Um diese positive, über ein ganzes Schuljahr anhaltende Energie nicht verpuffen zu lassen, um sie beglückt, ja wohl auch ein wenig stolz zu pflegen und zu kanalisieren, führte der Lehrer in der Klasse ein »Zeugnisspruch-Sammelalbum« ein. Die Sammelleidenschaft, durch die damalige Fußballweltmeisterschaft bereits mächtig angeheizt, wurde – quasi als Nebeneffekt – auf eine literarisch etwas ergiebigere Stufe gehoben. Jedes Kind erhielt als Startkapital ein leeres Epochenheft. Sobald es einen fremden Zeugnisspruch fehlerfrei vorgetragen hatte (zwei kleine Versprecher wurden von der Klasse großzügig geduldet), durfte es den Spruch in gedruckter Version einkleben. Bereits nach zwei Wochen zeigte eine Schülerin ihr »Sammelalbum« der Klasse. Sie hatte die gewonnenen Texte koloriert und in verschiedenen Formen ausgeschnitten. Wenn in dem Spruch ein Schmetterling vorkam, erhielt der Ausschnitt selbstverständlich die Umrisse eines Schmetterlings. Bei abstrakteren Spruchinhalten erfand sie allerdings auch selber das entsprechende Bild dazu – eine Leistung, über die der Lehrer nur staunen konnte. Diese Idee fand etliche Nachahmer.
Um die Spannung aufrecht zu erhalten, wurden die »Spielregeln« variiert und weiterentwickelt. Hieß es anfangs noch: »Wer kann den Spruch von Paul auswendig?«, machte der Lehrer schrittweise aus jeder neuen Aufforderung ein Rätsel. »Ich suche den Zeugnisspruch, in dem das Wort ›Mut‹ zweimal vorkommt!«, oder »Bei diesem Spruch geht es um die Kunst des Zuhörens, wer findet ihn heraus?«, oder »Ich werde euch jetzt nur die Vokale der ersten Zeile vorlesen: a, ei, äu, e, a, i, e, e. Welcher Spruch ist das?«, oder »Dieses Gedicht kann man gut klatschen. Hört euch das an!«, oder »Ich spiele euch jetzt den Spruch ohne Worte vor. Wie bei einer Scharade. Wer weiß ihn?«, oder »Ich möchte, so gut es geht, den Spruch an die Tafel zeichnen. Vielleicht erkennt ihr ihn!« Wenn Gäste in die Klasse kamen, behauptete der Lehrer gerne: »Ich wette mit Ihnen, dass diese Klasse die gesamten Zeugnissprüche so beherrscht, dass Sie sich fünf Kinder aussuchen dürfen. Zeigen Sie nur mit dem Finger darauf, und der entsprechende Spruch wird im Chor erklingen!«
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie selig die Klasse jeden »Wett-Sieg« des Lehrers quittierte. Aus dem Umgang mit den kleinen Gedichten wurden regelrechte »Lyrik-Stunden«, die aus Zeitmangel und vor lauter Engagement der Schüler oft in der Pause weiterliefen. So konnte völlig unausgesprochen und ohne lehrerhafte Motivierung ein Verständnis für Rhythmus, Vers, Reim, Alliteration, Metapher und Gleichnis angelegt und eingeübt werden. Aus den ehemaligen Schülerinnen sind inzwischen lauter bekannte Schriftsteller geworden. Nein, Quatsch, natürlich nicht! Aber wer weiß? Am Ende des Schuljahres hatten fünf Kinder tatsächlich alle 37 Sprüche eingeklebt. Das große Mittelfeld bewegte sich zwischen 20 und 30 Texten. Einige wenige waren »bloß« auf sieben Exemplare gekommen, was auch niemanden störte. Sie hatten den Prozess gutmütig über sich ergehen lassen. Für sie war es eine, von der Klasse anerkannte Leistung, sieben fremde Sprüche deutlich vorgetragen zu haben, die übrigen 30 nehmen sie wie ruhende Keime durch die weitere Schulzeit mit. Nun gut, man kann’s auch auf die Spitze treiben. Das muss ja nicht immer sein! Trotzdem zeigt dieses Exempel deutlich, welches Potenzial in den Zeugnissprüchen steckt, wenn man eine Klasse dafür begeistert. Obwohl ein solches Gedicht im besten Fall der erste Anstoß zu einer tiefergehenden Betrachtung der eigenen Schwächen und Stärken ist, wirkt es nur, wenn sich der Schüler mit ihm freudig verbindet. Das relativ kurze Sprüchlein, das den Kindern und Jugendlichen für das neue Schuljahr mitgegeben wird, erfüllt dennoch im Ansatz die beiden Grundelemente der Selbsterkenntnis: den beherzten Blick auf das Gewordene und die nur in der Dichtung zeitgleich mögliche Ahnung eines zukünftigen Vorsatzes.
Luft, raune und rausche,
aber sag’ mir nichts ein!
Weiß selbst, was ich sagen will!
Wind, wehe und zause,
aber treib’ mich nicht fort!
Weiß selbst, wohin ich geh’!
Sturm, schubse und fauche,
aber spiel’ dich nicht auf!
Weiß selbst, wie stark ich sein muss,
um selber zu sein!
Moralische Vorhaltungen werden nicht gemacht
Ein Zeugnisspruch ist umso geglückter, je freier der betroffene Schüler abspürt, in welchem Stadium der Entwicklung er sich gerade befindet. Nach außen hin sollte dieser Moment nicht pedantisch, schon gar nicht anklagend festgelegt werden. Bin ich, Schüler, auf dem Wege zu einem innerlich gefassten Ziel, oder befinde ich mich noch in einem anfänglichen Entscheidungsprozess? Dominiert meine Vergangenheit, oder drücke ich durch den Spruch bereits eine neu entfachte Sehnsucht nach der verwandelten Zukunft aus? Diese »ungestellten« Fragen nicht offensichtlich in einem moralischen Gleichnis zu plakatieren, sondern dem Gespür des jeweiligen Schülers zu überlassen, gehört zu den Feinheiten im Umgang mit Zeugnissprüchen. Zu den großen Errungenschaften der Waldorfpädagogik zählt, dass moralische Ziele überhaupt nur in Freiheit »vorgeschlagen« werden sollten. Ein Spruch dürfte, so gesehen, niemals zu dem vordergründigen Wunsch nach Besserung verkommen. Nicht ich, Lehrer, bestimme durch eine sprachliche Metapher, in welche Richtung sich der Schüler möglichst noch im nächsten Schuljahr entwickeln möge, sondern ich mache ihm ein faires Angebot: »Aus dem reichen Schatz der menschlichen Schwächen und ihrer entsprechenden Metamorphosen hin zu einem allgemein menschlichen Ideal, gebe ich dir gerade jene Impulse mit auf den Weg, die mit dir zu tun haben. Schaue sie ein Jahr lang an.
Spüre die Verantwortung, sie innerlich zu bewegen und Schritt für Schritt zu erkennen. Und dann entscheide, was du daraus machst. Ich will ehrlichen Herzens nichts von dir, aber du sollst die Möglichkeit haben, aus einer gefühlten Erkenntnis heraus, selber etwas zu wollen.« Wer mit dieser Haltung Zeugnissprüche verfasst oder auswählt, ist kein Moralprediger, sondern ein Moral-Anbieter. Und damit bemüht er sich um die vordringlichsten Aufgaben des Lehrers überhaupt.
Mein Herz ist groß
und lässt die Welt herein,
wie sie auch walten mag.
Mein Herz ist stark
und ändert an der Welt,
was da zu ändern ist.
Macht aus neugierigen Augen
einen liebevollen Blick.
Macht aus zaghaften Gesten
eine helfende Hand.
Verwandelt Kummer und Scheu
in tröstende Kraft.
Von einer Herzens-Natur zu einer Herzens-Kultur
Wie erhebend ist es, wenn man sich gedrängt fühlt, stets offen und unbefangen auf die Welt zuzugehen. Es gibt Menschen, denen das Herz regelrecht gebietet, andere Meinungen gelten zu lassen und Neues erwartungsvoll aufzunehmen. Solche Frohnaturen lassen sich durch eine liebevolle Neugierde treiben. Sie öffnen im guten Glauben Türen und Fenster, sind aber dann schnell mit der Fülle der hereinbrechenden Eindrücke überfordert. Dieses klassische Parzival-Motiv ist bei heutigen Jugendlichen vermehrt zu beobachten. Man ist bereit, Verständnis zu haben, sogar mitzufühlen, doch dann bemerkt man beinahe gelähmt, dass sich von selbst kein wirkliches Mitleid einstellt, das zum Handeln auffordern würde. Denn dafür müsste zu der naturgegebenen, bewundernswerten Größe eines Herzens noch eine Stärke dazukommen, die man sich nur mühsam erwerben kann. Größe allein genügt nicht, Stärke allein wäre auch keine Hilfe. Hier wird gerade die Metamorphose von der glücklichen Anlage einer Seelenkonfiguration zu einer soziale Handhabung oder gar Technik wichtig. Wie ein Jugendlicher diesen Übergang vollziehen kann, ist in seine volle Freiheit gestellt. Dass es die Möglichkeit gibt, aus einem natürlich gestimmten Herzen ein kultiviertes zu machen, sollte ihm aber in klarer Weise vor Augen geführt werden.
Von der Kultivierung des Temperaments
Eine grundlegende Erziehungsfrage entsteht, wenn man sich klarmachen will, aus welchen Motiven ein mehr oder weniger bewusstes menschliches Wesen eigentlich zum freiheitlichen Handeln angeregt wird. Sollten mich äußere Gründe zur Tat bewegen, kann ich schlecht von Freiheit sprechen.
Doch auch die inneren Anstöße sind nicht unbedingt ein Garant für Eigenständigkeit. Was will mein Temperament und was will ich selbst? Oft, gerade in der Kindheit und Jugend, werden diese beiden inneren Bezirke in einen Topf geworfen oder miteinander verwechselt. Habe ich ein feuriges Temperament, glaube ich nur allzu gerne, ich sei es selbst, der gerade so wütend oder aggressiv reagiert. Ist mein natürlicher Gemütszustand eher grüblerisch, schreibe ich mir eine durchdachte Handlung ebenso schnell selber zu. Um hierfür ein Gespür zu bekommen und langsam zu differenzieren, ist die Temperamentslehre ja nicht nur für die Lehrer und Eltern ein Segen, sondern auch für die Schüler selbst. Wer als Sprachgestalter oder als Klassenlehrer einmal mit einer siebten oder achten Klasse das »Haus der Temperamente« von Nestroy aufgeführt hat, weiß, wie friedensstiftend, horizonterweiternd eine solche intensive Beschäftigung mit den Temperamenten ist. Selbst in einem Zeugnisspruch für die jüngeren Klassen kann bereits eine Ahnung von dem grundlegenden Unterschied zwischen Temperament und eigenem Ich angelegt werden. Ersteres wird durch Letzteres geläutert, aber auch das Ich wird sich nur durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Temperament richtig entfalten und kräftigen. Was wir Erwachsene schon als einen inneren Friedensbruch, einen inneren Gegensatz empfinden, ist für das Kind noch eine Konfrontation zwischen Innen und Außen, zwischen Standfestigkeit und Sturmwinden beispielsweise. Neben der Metamorphose ist die Steigerung ein weiteres künstlerisches Mittel, das gerade bei Zeugnissprüchen eine schöne Wirkung zeigt. Wenn sich ein Ansatz, ein Gedankenkomplex von Strophe zu Strophe wandelt, fühlen wir etwas vom Hauch des Lebendigen, wir wachsen mit. Kann er sich dazu auch noch von Stufe zu Stufe steigern, verschmelzen wir tiefer mit dem Lebendigen und blühen auf.
Zum Autor: Till von Grotthuss ist seit 34 Jahren Klassenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell. Bisherige »Nebenprodukte«: ein Roman, ein Buch mit Zeugnissprüchen und zwei Theaterbearbeitungen.