Im Hinblick auf die Abschlüsse entbrennt in den Schulgemeinschaften oft eine Diskussion um die «wahre Auslegung der Waldorfpädagogik». Welche Werte und Lebenswerkzeuge kann, soll und muss Waldorfpädagogik jungen Erwachsenen vermittelt haben, wenn sie nach zehn bis 13 Jahren Gesamtschule in Freiheit in die Welt entlassen werden? Und inwiefern muss sie für junge Menschen die Anschlussfähigkeit an die weiterführenden Bildungsangebote unserer Gesellschaft sicherstellen?
Die Glaubensfrage: Waldorfabschluss oder Abitur?
Generell vorweg: Bildung, Oberstufe und Abschlüsse sind Ländersache. Allgemein anerkannt sind die Abschlüsse Erster Schulabschluss (ESA), Mittlerer Schulabschluss (MSA), Fachabitur und Abitur, in manchen Bundesländern noch Variationen dazwischen. Wenn Waldorfschulen staatliche Abschlüsse anbieten, müssen sie den Anforderungen der entsprechenden staatlichen Regelungen genügen. Innerhalb der Waldorfpäda-
gogik hat der sogenannte Waldorfabschluss eine hohe Bedeutung. Idealerweise durchleben die Jugendlichen in der zwölften Klasse eine Art Erntezeit das Klassenspiel als lebensprägendes Theaterstück, eine aufwendige Kunstreise, die individuelle Jahresarbeit, Eurythmieabschluss und Sozialpraktikum. Viele Eltern und Lehrer:innen wollen den Jugendlichen diese Erfahrungen unbedingt ermöglichen, sie sind Alleinstellungsmerkmale unserer Pädagogik. Nicht selten geraten Waldorfgemeinschaften in einen Zielkonflikt zwischen dem Idealbild Waldorfabschluss und der Einhaltung der staatlichen Regelungen zum Erwerb von Bildungsabschlüssen. Wieviel Waldorfabschluss kann und soll die Schule anbieten, inwieweit verleugnet sie ihre Ideale und Identität, wenn sie sich den staatlichen Kriterien unterordnet? Konsequenz wäre hier hilfreich: Eine Schule kann sich bewusst dafür entscheiden, kein Abitur anzubieten. Zwar gäbe es dann weniger Anmeldungen; die übrigen Schüler:innen kämen jedoch in den vollen Genuss des idealen Waldorfabschlusses. Oder eine Schule entscheidet sich bewusst für das Abitur und setzt konsequent Kräfte dafür ein, dass die Schüler:innen diesen Abschluss wirklich gut meistern können. Viele Schulen bieten beides an. Das 13. Schuljahr hängt dann entscheidend davon ab, wie gut die Jugendlichen von der Erntezeit auf rein leistungsbasierte Prüfungen umstellen können und wie sie dabei von ihren Oberstufenbetreuer:innen begleitet werden. In Hamburg und in Hessen haben sich die meisten Waldorfschulen für das staatliche System der Profiloberstufe entschieden, es ist eine zweijährige Vorbereitung auf das Abitur mit eingeschränktem Potenzial für einen Waldorfabschluss.
Zu erwähnen sind ebenfalls die Waldorf-Fachschulen, die alternativ eine duale Ausbildung und den Abschluss eines Fachabiturs ermöglichen. Ebenso haben einige Schulen das sogenannte Neuseeland-Abitur eingeführt. Insgesamt sind viele Lehrer:innen sehr darum bemüht, wie Rudolf Steiner es ausdrückt, «schmiegsam» so viel Waldorf wie möglich innerhalb der staatlichen Rahmenbedingungen anzubieten.
Transparenz über die Oberstufe
Eine gute Oberstufe zeichnet sich durch Klarheit in der Vermittlung von Erwartungen, Inhalten und Zukunftsperspektiven aus. Junge Leute und ihre Eltern sollten wissen, wie die Abläufe in der Schule in den nächsten Jahren sein werden und sie brauchen Klarheit über die möglichen Abschlüsse sowie Alternativen im Fall des Scheiterns. Dieses Wissen sollte auch bei allen Oberstufenlehrer:innen und -betreuer:innen vorhanden sein. Dazu sind regelmäßige Informationsveranstaltungen für Schüler:innen, Eltern und Kolleg:innen sinnvoll. Oberstufenbetreuer:innen sollten in der Oberstufe den Blumenstrauß an beruflichen Möglichkeiten aufzeigen können. Auch wenn jemand selbst kein Abitur oder Studium durchlaufen hat, sollte er/sie in der Lage sein, alle Abschlussformen erklären zu können. Ein weiterer, wichtiger Punkt ist Offenheit gegenüber den Eltern, wie das Kollegium zu den Abschlüssen steht. Eltern erwarten Verlässlichkeit und den Mut zum Bekenntnis, welche Richtung die Schule präferiert.
Qualifizierte Oberstufenlehrer:innen
An Waldorfschulen herrscht, ebenso wie an staatlichen Schulen, Lehrer:innenmangel. Hier wie dort müssen Oberstufenlehrer:innen vor allem in Abschlussfächern eine hinreichende fachliche und pädagogische Qualifikation nachweisen, was in der Praxis der Waldorfschulen bedeutet, dass zusätzlich zu einer fachspezifischen Ausbildung noch eine waldorfpädagogische Ausbildung erfolgt, denn die Idee ist ja, «Persönlichkeiten» unterrichten zu lassen.
Ein wesentlicher Faktor der Waldorfpädagogik ist, dass sie als einzige deutsche Schulbewegung ihre Lehrkräfte aufwendig an eigenen Ausbildungsstätten, Hochschulen, Seminaren oder einfach selber ausbildet, ohne den Ort des Geschehens zu definieren. Der größte Teil der Schulgelder und des Etats des Bundes der Freien Waldorfschulen, rund zwölf Millionen Euro, fließt jährlich in die Lehrer:innenausbildung. Jedoch verlässt ein nicht geringer Teil der neu ankommenden Lehrer:innen die Schulen innerhalb von drei Jahren wieder. Das ist bedenklich, schwächt die Qualität der Schulen und kostet die gesamte Bewegung viel Geld.
Deshalb ist es zukünftig noch mehr die Aufgabe der Lehrer:innenseminare, neue Potenziale zu entdecken, aber auch für den herausfordernden Beruf ungeeignete Personen möglichst früh auszusortieren und zeitgenössische Themen und Herausforderungen des Schulalltags zu vermitteln. Das ist wichtig, um Frust, falsche Erwartungen sowie Kosten für alle zu verringern.
Zudem wird es Aufgabe der Schulen sein, noch stärker Verantwortung für das Verbleiben von neuen Lehrer:innen zu übernehmen. Jedes Kollegium muss sich fragen, wie offen es neue Kolleg:innen aufnimmt und ob es ihnen genügend Freiräume anbietet, die zum Verbleiben an der Schule einladen. Auch die Bezahlung der Oberstufenlehrer:innen spielt dabei eine Rolle. Natürlich ist gemäß Rudolf Steiner jede Lehrkraft mit ihrem Fach für die Entwicklung der Schüler:innen gleich wichtig. Auf der anderen Seite schreckt eine gleiche Bezahlung potenzielle neue Kolleg:innen mit einem fünfjährigen Studium oft ab. Jedes Kollegium ist aufgefordert, sich dazu eine befriedende und zukunftssichernde Lösung zu erarbeiten.
Vorbereitung der Jugendlichen auf ihre beruflichen Möglichkeiten
Traditionell stark sind die Waldorfabgänger:innen in den künstlerischen und handwerklichen Fächern. Sie können mit vielen erlernten Fertigkeiten entsprechende Ausbildungen ergreifen. Ebenso gilt es aber, anzuerkennen, dass heutzutage für viele Berufe ein Fachabitur oder Abitur notwendig ist. Beispielsweise ist die direkte Ausbildung für Erzieher:innen im Kindergarten nur mit Fachabitur möglich, von Hebammen wird sogar ein Bachelorstudium gefordert.
Sollten Waldorfschüler:innen Jurist:innen oder Mediziner:innen werden wollen, wäre es angemessen, dass sie eine gute Abiturnote als Eintrittskarte für den universitären Numerus Clausus erreichen könnten. In der Realität verlassen nicht Wenige die Oberstufe, da sie sich an staatlichen weiterführenden Schulen eine bessere Vorbereitung erhoffen. Umso sinnvoller wäre es, wenn junge Leute mit Waldorfhintergrund auch im staatlichen Universitätssystem anschlussfähig wären und später in ihrem Wunschberuf gesellschaftlich befruchtend wirken können.
Fazit
Wir als Eltern wollen den Kindern eine ganzheitliche Entwicklung ermöglichen. Sie sollen sich in ihrem familiären und schulischen Umfeld Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, mit denen sie hinaus in die Welt treten und ihre eigene Zukunft gut meistern können – diese Zukunft ist übrigens nicht unsere heutige Erwachsenenwelt. Wir verstehen Lehrer:innen deshalb unbedingt als Zeitgenossen und nicht in erster Linie als Bewahrer tradierter (Lehrplan)-Modelle. Wir haben sehr viele engagierte und beeindruckende Lehrpersönlichkeiten erlebt und danken allen für ihr Engagement bei der guten Begleitung unserer Kinder.
Wir Eltern verstehen Waldorfpädagogik als Ermöglichungspädagogik, nicht als Verhinderungspädagogik. Kinder sollen einmal ihren Blumenstrauß der Möglichkeiten aufgezeigt bekommen – und sich dann selbst für Rose oder Nelke entscheiden.
Jede Waldorfschule ist für sich frei, wie sie ihre Oberstufe gestaltet und durchführt. Und jede Schule hat die Frage nach der Ausrichtung ihrer Oberstufe selbst zu beantworten. Egal, wofür sie sich entscheidet, sie sollte es konsequent durchtragen und kommunizieren. Jeder Schulabschluss erinnert in diesem Punkt ein bisschen an Weihnachten: Je näher das große Fest rückt, desto klarer wird allen Beteiligten, dass sie sich Gedanken machen müssen, was sie wollen. Deshalb ist die Abschlussentscheidung für Eltern immer auch eine Schulentscheidung.
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