Rudolf Steiners Buch »Die Kernpunkte der sozialen Frage«, erschienen im April 1919, beschäftigte die Feuilletonisten namhafter Zeitungen, darunter auch die New York Times. Einer, der ein halbes Jahrhundert später seine Sicht auf die »Kernpunkte« kundtat, war der Künstler Joseph Beuys. Des Geredes überdrüssig, dass man endlich die Dreigliederung einführen müsse, postulierte er: »Rudolf Steiner [...] hat ja gar nichts erfunden, sondern er hat alles nur beobachtet. Und die Ergebnisse der Wahrnehmung zeigen [...], dass der soziale Organismus dreigegliedert ist, schon längst ist, dass er nicht erst dreigegliedert zu werden braucht [...] [Steiner] gibt lediglich die therapeutischen Maßnahmen an, die im Bewusstsein auftauchen müssen, damit die Menschen das [...] richtig regeln, [...] dass nicht der soziale Organismus, der schon dreigegliedert ist, ewig bewusstlos bleibt und aus der Bewusstlosigkeit heraus [...] zu den ganzen Verfilzungen, Verknotungen und Fehlstellungen kommt.«
Der Schlüssel zu der von Beuys erwähnten Therapie ist die Zusammenarbeit. So wie der menschliche Organismus mit seinen drei Hauptfunktionen, dem Nerven-Sinnes-System, dem rhythmischen System und dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, dreigliedrig, aber auch immer wieder therapiebedürftig ist, damit alle Funktionen sinnvoll ineinandergreifen können, ist es auch mit dem sozialen Organismus. Nicht das Trennende zwischen Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben ist das Wesentliche, sondern ihr Zusammenwirken als autonome Systeme. Und dies wirkt umso gesünder, je bewusster man sich der Eigenheiten, das heißt, des Wesens der drei Funktionsglieder des sozialen Organismus ist.
Kontinuität und Diskontinuität
Das Neue fordert immer auch den Gegenpol, die Kraft des Bewahrens heraus. Der Konservative sucht nach Bestätigungen des Status quo, der Reformer nach Anerkennung dessen, was noch nicht oder erst im Werden begriffen ist. In beiden Fällen wird nicht selten das oder der Andere zum Fremden oder gar zum Feind.
Reformen fallen nicht vom Himmel, das wissen vor allem die Reformer selbst. Bewegung allein garantiert noch nicht einen sinnvollen Fortgang und Fortschritt hat nicht nur etwas Zukünftiges in sich, sondern auch etwas Rückwärtsgewandtes. Wenn Reformen stagnieren, so liegt das immer an beiden: an denen, die sie durchführen (wollen) und an denen, an deren Befindlichkeit sie anstoßen oder die sie ignorieren. Bisweilen retten sich beide Seiten in die Forderung nach neuen Visionen, als seien die Ideen von ehemals schon längst Realität, als sei das Gestrige schon längst begriffen und abgearbeitet.
Veränderungen müssen sein, fordern vor allem jene, die dies aus mehrfach abgesicherter Distanz erklären oder all die im Nachteil Befindlichen, also vom Fortschritt Ausgeschlossenen. Und gefordert werden sie von denen, die immer wieder vergeblich die Verbindungslinien zwischen Zeiterscheinungen und kulturell gewachsenen und zugleich dem Verlust preisgegebenen Werten, Ideen und Idealen suchen. Im Grunde genommen brauchen wir Veränderungen nicht zu fordern, sie finden statt. Es ist jedoch die Frage, ob und inwieweit wir sie überhaupt erkennen. Diese Erkenntnis aber hängt vom Grad der Durchlässigkeit und der Verbindlichkeit zwischen Kontinuität und Diskontinuität ab.
Eine Didaktik des Unvorhersehbaren
Die Zukunft der Waldorfschulen wird davon abhängen, inwieweit es gelingt, das Kontinuum der Gesetze der menschlichen Entwicklung und der sozialen Gestaltung – die in sich schon diskontinuierliche Vorgänge einschließen – zu begreifen und in didaktische und methodische Konzepte sowie soziale Prozesse umzusetzen, und auf der anderen Seite davon, dass man einen Blick entwickelt für das spezifisch Diskontinuierliche, Unvorhersehbare, mithin das Aktuelle oder das, was aus der Zukunft hereindrängt, was zunächst die Kontinuität
verweigert und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Methodik und Didaktik dieses Unvorhersehbaren gilt es noch zu schreiben. Ob Digitalisierung, Medienkonsum, Drogen, Aggressionen oder die No-future-Mentalität, all diese Phänomene treten irgendwo und irgendwann scheinbar ganz unvermittelt auf, als hätte es nie ein Davor gegeben und würde es nie ein Danach geben. Und doch sind sie Teil eines Ganzen. Längst, so wissen wir alle, ist nicht alles Neue auch sinnvoll oder wesentlich für die physische, seelische und geistige Entwicklung des Menschen. Das Gleiche gilt aber auch für das Alte, das längst Bekannte.
Die Herausforderung ist, darüber nachzudenken, in welcher Form den historischen, den sozialen, den technischen Entwicklungen und vor allem der sich ändernden Bewusstseinslage noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Zugleich aber gilt es, auf Seiten der Lehrer und Erzieher all diese oft sehr kurzlebigen Erscheinungen auf ihre Sinnhaftigkeit und das ihnen eigene Potenzial für die seelisch-geistige Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu prüfen. Es geht also um die Wahrung und stetige Neufindung der Kontinuität im Geistigen und die Auseinandersetzung mit den diskontinuierlichen Ereignissen zugleich. Die Vernachlässigung eines dieser Aspekte führt zu Stauungen oder Atemlosigkeit, vor allem aber zum Verlust der Kontinuität jener geistigen Spur, die Rudolf Steiner 1919 mit großem Engagement vorgezeichnet hat und die unsere Zeit dringender braucht denn je.
Dr. Walter Kugler promovierte über die Selbstverwaltung der Waldorfschulen, lehrte an der Universität Köln und unterrichtete 1979-1982 an der Waldorfschule in Kassel. 2008 Berufung zum Professor of Fine Art an der Brookes University Oxford. Er war viele Jahre Mitherausgeber der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, leitete zehn Jahre lang das Rudolf-Steiner-Archiv und kuratierte zahlreiche Ausstellungen mit Werken von Rudolf Steiner weltweit.
Literatur: R. Rappmann, Interview mit Joseph Beuys, in: V. Harlan,R. Rappmann, P. Schata: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976