Historisch

Zwei Schwestern und eine Erbschaft

Nana Göbel
Ethel Edwina Burbury
Ruth Nelson

Bereits im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam Anthroposophie durch Emma Richmond nach Neuseeland. Ihre Tochter, die Lehrerin Rachel Crompton-Smith, eröffnete zusammen mit ihrem Mann Bernard Crompton-Smith 1917 die kleine St.-George-Schule in Havelock North, an der Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet wurden, was für die damalige Zeit spektakulär war. Diesen Impuls nahmen Ethel Edwina Burbury und Ruth Nelson auf und gründeten das anthroposophische Zentrum »Taruna« und bald darauf die erste Waldorfschule in Hastings.

1928 besuchte der in Heidenheim an der Brenz aufgewachsene Unternehmersohn und Botaniker Alfred Meebold (1863–1952) zum ersten Mal Neuseeland, wo er bei Rachel und Bernard Crompton-Smith in Havelock North wohnte. 1938 verließ Meebold Europa mit der Absicht, sich endgültig in Neuseeland niederzulassen. Auf dem Weg dorthin wurde er allerdings vom Ausbruch des II. Weltkriegs überrascht und fand sich im Internierungslager auf Hawaii wieder. Dort wurde er festgehalten und durfte Honolulu erst nach 1945 verlassen. Dann gelang die Ausreise nach Neuseeland und Meebold lebte von 1946 bis zu seinem Tod 1952 bei Ruth Nelson (1894–1977) und bei Ethel Edwina Burbury (1890–1978) im Haus Taruna in Havelock North. Er nutzte diese Zeit sowohl für seine eigenen Studien als auch für gründliche anthroposophische Studienkurse, an denen unter anderem Brian Butler († 2015) als junger Mann teilnahm, der spätere Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft Neuseelands. Ruth Nelson verbrachte ihre Schulzeit an der Woodford School, einer von Annie Mabel Hodge (1862-1938) gegründeten Schule mit innovativen pädagogischen Ideen. Diese Schulgründerin war ebenfalls mit der Anthroposophie vertraut und besuchte 1926 während einer gemeinsamen Europareise mit Rachel und Bernard Crompton-Smith sowie Mary Bauchop die Stuttgarter Waldorfschule. Dieser Besuch bestätigte sie wohl in ihrer Bemühung, neben den klassischen Schulfächern auch künstlerische und handwerkliche Fächer anzubieten. Es ist zu vermuten, dass Ruth Nelson durch sie auf die Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners hingewiesen wurde. Während einer Kunststudienfahrt jedenfalls, die Ruth Nelson 1922 nach Italien machte, beschloss sie, einen Abstecher nach Dornach einzufügen, um Rudolf Steiner zu hören und kennenzulernen. Das gelang ihr auch. 1935, bei einem zweiten Dornach-Besuch gemeinsam mit ihrer Freundin Edna Burbury, hörte sie durch Hermann von Baravalle erneut von der Stuttgarter Waldorfschule. Die beiden Freundinnen reisten daraufhin nach Stuttgart und durften hospitieren. Sie waren offensichtlich so beeindruckt von dem, was sie dort erlebten, dass sie sich entschlossen, in Neuseeland eine Waldorfschule zu gründen. Ethel Edwina (Edna) Burbury und Ruth Nelson verfügten nicht nur über die Willensstärke, sondern auch – jeweils aus einer großen Erbschaft – über ausreichende Mittel, ein anthroposophisches Zentrum in Neuseeland aufzubauen, was ihnen mit Haus Taruna in Havelock North gelang. Allerdings wurde das Haus, kaum war es fertiggestellt, 1931 von einem Erdbeben zerstört. Die beiden Damen überlebten, weil die eine gerade im Garten arbeitete und die andere in den Garten gelaufen kam, um sie ans Telefon zu holen. Sie sahen ihr Haus einstürzen – und bauten es recht bald wieder auf. Als sie 1949 von der zum Verkauf stehenden Queenswood Schule in Hastings erfuhren, gründeten sie gemeinsam mit Ruth MacPherson eine Stiftung und kauften die Schule, ließen sie umbauen und renovieren. Sie baten Jean Stuart-Menteath (1898-1983), von 1917 vermutlich bis zur Schließung Lehrerin an der St. George Schule in Havelock North und ausgebildet an der Stuttgarter Waldorfschule, als Direktorin der Queenswood Schule einzusteigen und die Schüler, die dort schon seit Jahren unterrichtet wurden, zu begleiten. Mit der Zeit bauten sie die bestehende Schule in eine Waldorfschule um. Das war damals die einzige realistische Möglichkeit, weil eine neue Schule mit einem anderen Bildungsprogramm nicht genehmigt worden wäre. 1951 kam Kathleen Weston – mit einer Ausbildung an der Michael Hall School in England im Rucksack – und übernahm den Kindergarten. Die beiden Gründerinnen finanzierten nicht nur den Kauf und Umbau der Schule, sondern auch die Reisen europäischer Mentoren, so für John Benians und Roy Wilkinson. 1962 fuhr Karl Ege, zunächst Lehrer an der Waldorfschule in Stuttgart und dann in New York, zum Schulberatungsbesuch nach Neuseeland. Dieser Besuch war für die sechs Lehrer und die Eurythmistin (Yves Muller, Stan Barnett, Janet Hodder, Helena Plumbe, Brian Butler, Erica Burris, Barbara Jackson, Linus McGregor McDonald) sehr bedeutend. Denn mit einer Ausnahme hatten sie selbst noch keinen Waldorflehrer erlebt und waren ganz unsicher, ob ihre Vorstellungen von einer Waldorfschule zutreffend waren. Karl Ege konnte diese Zweifel zerstreuen, was für die Lehrer eine wichtige Bestätigung darstellte. Von da an nannten sie die Schule: Queenswood Steiner School und Karl Ege gab den Kolleginnen und Kollegen einen zweimonatigen Vertiefungskurs.

Bis in die Mitte der 1970er Jahre führte die Waldorfschule in Hastings zwei Kindergartengruppen und sieben Klassen. Das Einzugsgebiet der Schule erstreckte sich über alle Ortschaften dieser an der Ostküste gelegenen Ebene – reichte also von Napier über Hastings und Hawkes Bay bis nach Havelock North. Erst Mitte der 1970er Jahre wurde mit dem Aufbau der Oberstufe begonnen. 1973/74 initiierte Edwin Ayre (1912–1984) die Oberstufe. Er war ein begnadeter Waldorflehrer, kam mit langjähriger Erfahrung an den Waldorfschulen in Edinburgh und Kings Langley nach Australien und liebte die Kunst des Erziehens in all ihren Facetten. Er wurde als Mentor für die Hastings Steiner School nach Neuseeland eingeladen, webte nun die verschiedenen Elemente zusammen und fand die richtigen Lehrer. Edwin Ayre begründete auch die erste Waldorflehrerausbildung in Neuseeland, das Rudolf Steiner Educational Institute in Hastings. Carl Hoffmann weitete das Institut zu dem Taruna College in Havelock North aus. In der alten Residenz von Ruth Nelson und Edna Burbury konnte so bis in die 2010er Jahre eine eigene neuseeländische Waldorflehreraus­bildung angeboten werden.

Literatur: Nana Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019.