Klassenzimmer

Das M-Wort im Klassenzimmer

Mohammed Johari

Im Deutschunterricht unserer 15-jährigen Tochter wurde kürzlich Friedrich Schillers Sturm-und-Drang-Drama »Die Räuber« gelesen. Im ersten Akt, in der ersten Szene beklagt sich Franz Moor über seine eigene Hässlichkeit und fragt in seinem Monolog «Warum mußte sie (die Natur, Anm. Redaktion) mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? gerade mir? Nicht anders, als ob sie bei meiner Geburt einen Rest gesetzt hätte? Warum gerade mir die Lappländersnase? Gerade mir dieses M*enmaul? Diese Hottentottenaugen? Wirklich, ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworfen, und mich daraus gebacken.» Als im Unterricht diese Stelle besprochen wurde, gab es keine Hinweise auf die rassistische und kolonialistische Konnotation des M-Wortes und der anderen Bezeichungen, die diskriminieren und exotisieren. Dabei merkt der Duden zum M-Wort an, dass es »veraltet, heute diskriminierend« ist.

Ob nun von einer Gelegenheit oder Verpflichtung zur Thematisierung der Geschichte der Ausgrenzung und Unterdrückung schwarzer Menschen gegeben ist, mögen die Leser:innen am Ende dieses Appells selbst entscheiden.

Der Bund der Freien Waldorfschulen hat mit der Stuttgarter Erklärung beispielhaft gezeigt, wie Einrichtungen korrekt mit verunglimpfenden oder rassistischen Worten oder Äußerungen einer historischen Person umgehen können. In der Stuttgarter Erklärung: Waldorfschulen gegen Diskriminierung heißt es: »Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrer:innenausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet.« Gleichfalls gestehen die Autor:innen der Erklärung ein, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken.

Auch der Rudolf Steiner-Verlag, der das Gesamtwerk Rudolf Steiners verlegt, kommentiert seit einigen Jahren kritisch die in Rede stehenden Äußerungen.
Diese Praxis ist im Sinne des Begründers der Anthroposophie, der eigene missverständliche Aussagen korrigierte und unter anderem auch für den Verein zur Abwehr des Antisemitismus schrieb.

Diesen Umgang wünsche ich mir auch als Standard im Waldorfschulunterricht, wenn deutsche und andere Klassiker behandelt werden. Antirassismus und Antidiskriminierung müssen auch im Alltag, auch im Schulunterricht, aktiv betrieben werden. Passivität und eine vermeintliche Neutralität hingegen unterstützen vorherrschende rassistische Normen und die dazugehörige Sprache.

Friedrich Schiller steht vielerorts noch auf dem Lehrplan des Deutschunterrichts, auch wenn sich bundesweit eine gewisse Abkehr von der Klassik abzuzeichnen scheint. Sein Jugenddrama Die Räuber kann mit dem dort verwendeten M-Wort beispielhaft für die rassistische und kolonialistische Haltung der Bildungsschicht im 18. Jahrhundert stehen.

Zurück zu einem gelebten Antirassismus: Das M-Wort ist die älteste deutsche Bezeichnung für schwarze Menschen und in seinem linguistischen Ursprung wie auch in seinem historischen Werden negativ konnotiert, denn neben dem Lateinischen maurus (»dunkel«, »afrikanisch«) ist auch das griechische moros, das töricht, einfältig, dumm und gottlos bedeutet, die Herkunft für diesen Begriff.
»Mit dem Begriff M. bezeichneten weiße Menschen im 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert Menschen, die überwiegend als Sklav:innen des deutschen Adels und zunehmend auch des Bürgertums in den deutschen Staaten lebten.« (Hamann. S.146) Das Wort wurde während der Kolonialexpansion europäischer Länder verbreitet. Im Kontext des Kolonialismus wurden schwarze Menschen ermordet, vergewaltigt, versklavt und verschleppt. Die rassistische Bezeichnung ‘M.’ ist in diesem Kontext bis heute unkritisch genutzt worden. Sie reproduziert daher den Rassismus der in diesem Kontext geschehenen brutalen Verbrechen, ohne sich dabei von diesen zu distanzieren; und verwendet die rassistische Praxis der Fremd-Benennung.

Das M-Wort wurde einerseits in einem rassistischen Kontext verwendet, indem es aus christlicher Perspektive in Abgrenzung zu hellhäutigen Nichtchristen und andererseits eben auch muslimfeindlich, weil es synonym für MuslimInnen gebraucht wurde. Muslim:innen, die heute oftmals fremd-gemacht werden, indem geschichtskonträr wie auch realitätsverweigernd (man/frau denke allein an Millionen von balkanesischen Muslim:innen) der Gegensatz Europa einerseits und der Islam andererseits konstruiert wird (indem beispielsweise vom »christlich-jüdischen Abendland« gesprochen wird).

Das Standardwerk »Siedler Geschichte Europas: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr.« trägt schon im Titel eine Zurückweisung dieser Konstruktion. 

Was könnte nun noch im Weg stehen, die Themen Rassismus und Kolonialismus zu solchen Gelegenheiten wie der Verwendung des M-Wortes in einem literarischen Text im Schulunterricht aufzugreifen? Adäquat (nicht nur für Heranwachsende) wären alternative Schreibweisen, schriftliche sensible Kommentare und pädagogische antirassistische Exkurse. Das ist der richtige Weg, um uns und unsere Kinder auf eine Welt vorzubereiten, in der rassistische Normen und dazugehörige Sprache darauf warten, dekonstruiert zu werden. Das wäre nun eigentlich ein schönes Schlusswort für diesen Text.

Wenn da nicht tief, teils unterbewusst verwurzelte Gefühlsbarrieren in einigen von uns wirken würden, die beispielsweise ein kritisches Befassen mit der eigenen (Familien-)Geschichte stören. Auch diese Bewusstwerdung kann schmerzlich und beschämend sein, als weiße, autochthone deutsche Person mit Privilegien aufgewachsen zu sein, wo andere mit vielen Diskriminierungen und Alltagsrassismus heranwachsen und leben mussten — und es immer noch müssen.
Es kann schockierend wirken, sich einzugestehen selbt aktiv an diesem Leidensweg beigetragen zu haben. Zu meinen eigenen Erinnerungen gehört beispielsweise leider auch, wie ich als Kind, Jugendlicher und sogar noch als Erwachsener mich verbal rassistisch gegenüber Schwarzen, Türk:innen sowie Sinti und Roma geäußert habe. Doch allein durch Gleichgültigkeit und Passivität ein System der Unterdrückung und so seelische Verletzungen möglich gemacht zu haben, muss einen aufwühlen.

Insofern sind eine selbstkritische Auseinandersetzung mit sich selbst und die Bereitschaft, eigenes Denken, Sprechen und Handeln zu ändern, elementare Bausteine einer antirassistischen Haltung und Handlung. Sowohl mein autochthon-deutscher als auch mein (weißer) US-Südstaaten-Strang hat sich mit der kritischen Reflexion der familiären Beteiligungen und Verstrickungen an Verbrechen gegen die Menschheit äußerst schwergetan und tut es heute noch — und war/ist gleichzeitig »selbstverständlich nie rassistisch«…

»Wie halten wir es also mit dem Antirassimus?« ist folglich mehr als eine Gretchenfrage, vielmehr eine Selbstergründungs- und Systemfrage.

 

Weiterführende Literatur:

·      Antje Hornscheidt und Susan Arndt: Das M.-Wort. Auszug aus: Afrika und die deutsche Sprache. Münster, 2004.

·      Ibram X. Kendi: How to Be an Antiracist. München, 2019

·      Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen: Stuttgarter Erklärung des Bundes der Freien Waldorfschulen: Waldorfschulen gegen Diskriminierung. Stuttgart, 2007

·      Ramon Brüll und Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum. Frankfurt, 2008.

·      Tupoka Ogette: Exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen, Münster, 2019.

·      Hamann (2010): Das M-Wort. In: Nduka-Agwu/Lann Hornscheidt (Hg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen. S. 146-156.


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